21. Dezember 2006

Im Synagogenrausch

Der folgende Text wurde für die "Jüdische Zeitung" geschrieben, erschienen im Dezember Heft 2006. Die dortige Fotomontage hat Margarita Krasnovskaja gefertigt. Ich ergänze den Text hier mit einigen Bildern aus dem Internet.

In der – nicht besonders kontroversen – Diskussion um die Wirkung der neuen Synagoge in München hört man überwiegend positive Stimmen. Gibt es auch Bedenken? Kann es dabei überhaupt eine Kontroverse in Form eines Ja-Nein geben? Und wenn dem so ist, was steht zur Debatte? Bauen oder nicht bauen – das ist hier doch wahrlich keine Frage.
Ich begrenze die folgende imaginäre Diskussion in zweierlei Hinsicht. Lediglich zwei Stimmen reden miteinander: „Ja“ und „Ja, aber“. Zweitens dürfen sie sich nur über den Eindruck austauschen, der beim Anblick der neuen Synagogen in Deutschland von außen entsteht. Wie wirken sie auf einen Betrachter, bevor er eintritt?
Ja: Angesichts der Shoa und der Reichskristallnacht, der fast kompletten Zerstörung der Synagogen im Nazideutschland ist es eine Bringschuld der heutigen deutschen Politik, den angekommenen Juden die ungestörte Ausübung ihrer Religion wieder zu ermöglichen. Gemeinden werden wieder groß. Die meisten Städte verfügen über kleine und oft wenig passende Räume für den israelitischen Kultus. Es macht uns stolz, dass sich dies in den letzten Jahren ändert, denn viele neue Synagogen werden errichtet. Deren Einweihungen sind herausragende Ereignisse inmitten des politischen Alltags, die Bauten selbst gehören zu bedeutsamen Kunstwerken moderner Architektur. Will sagen: Was vor Jahrzehnten zerstört wurde, wird jetzt aufgebaut. Das jüdische Leben in Deutschland blüht abermals auf. Die neue Synagoge in München liegt zentral, ist unverkennbar exponiert, sie strahlt und lädt ein.
Ja, aber: Auch wenn es eine symbolisch starke Geste und eine großzügige Spende ist, bleibt die Frage nach der Außenwirkung. Wie kommt das an? Ist es eine ungestörte Ausübung der Religion, wenn sogar die Einweihung erst dank dem Schutz von Tausenden von Polizisten stattfinden darf? Können Juden sich auch außerhalb der Synagoge als Juden zeigen? Ist die zentrale Lage Zeichen einer Verankerung oder einer Konfrontation? Wirkt die architektonische Umsetzung tatsächlich strahlend und einladend?
Ja: Wir können nicht warten, bis alle Antisemiten umerzogen worden sind. Die Einweihung findet unter Schutz statt, was soll daran schlimm sein? Juden sind da und brauchen unsere Unterstützung. Angesichts der Besorgnis um die Sicherheitslage passt doch auch die kubische Form so gut. Schon zum zweiten Mal ausgewählt, ist sie möglicherweise stilbildend. Warum eigentlich nicht? Dresden und München – das sind zwei großartige Beispiele, fast ausnahmslos positiv bewertet von Fachleuten. Ihnen wird bald die Synagoge in Bochum folgen.
Ja, aber: Dann machen Sie also zuerst den Zugang zur Synagoge kaum passierbar und nennen es einladend? Wie kann eine Festung, eine Burg, mit allen erkennbaren Merkmalen nicht zu übersehender hoher Absicherung, gleichzeitig einladend wirken?
Ja: Die Lage ist nun mal so, außerdem beziehen wir uns auf die Form des ursprünglichen Tempels in Jerusalem und betonen auf diese Weise den traditionsbewussten Charakter des Judentums.
Ja, aber: Moment, woher nehmen Sie den hermetisch abgeriegelten Kubus? Ich sehe in den zugänglichen Rekonstruktionen und Modellen Züge einer Verteidigungsanlage mit einer Kapelle - unterstützt von zwei Säulen an der Fassade. Somit passte sie sich an die Zeit der Entstehung an – ägyptische bis hellenistische Antike.
Ja: Das wissen wir doch besser. Der Tempel war eine Festung. Kein Zufall, dass eine Schutzwand noch übrig geblieben und als Klagemauer bekannt ist. Auf zahlreichen Gemälden wird diese Festung auch als massiver Kubus dargestellt.
Ja, aber: Meinen Sie die nachgemalten Szenen der Tempelzerstörung? Diese Burgen in der Malerei symbolisieren die seit je in der christlichen Kultur sitzende Überzeugung, die jüdische Gemeinde distanziere sich von der Umgebung: So kapseln sie sich ja ab. So ein Klotz wie in München oder Dresden drückt das ohne Worte schon wieder aus. Das bezeugen auch viele Stimmen aus der Bevölkerung. Soll das die wahre Tradition des Judentums sein?
Ja: So meinen wir das nicht. Wir möchten unseren Respekt vor der jüdischen Religion betonen, wir zeigen zum Beispiel auch das ewige Licht, welches nun abends und nachts erkennbar ist, für jeden, der am Gebäude vorbei kommt.
Ja, aber: Meinen Sie das Licht des Allerheiligsten im Tempel, welches auch der Hohepriester nur einmal im Jahr zu sehen bekam?
Ja: Auf diese Weise machen wir den jüdischen Glauben zugänglich.
Ja, aber: Man darf anzweifeln, ob es theologisch gesehen so richtig ist. Und was ist mit der Ausrichtung des gesamten Projektes auf die russischen Juden? Wie viele von ihnen leben ihre Religion? Gehen Sie davon aus, dass der Synagogenraum jeden Schabbat voll ist, nicht nur bei den Führungen am Tag der offenen Tür?
Ja: Klar. Und wenn die Erwachsenen diese ihre Aufgabe noch nicht voll übernehmen, dann werden es deren Kinder auf jeden Fall tun. Wir bauen, um sie zu integrieren. Es ist eine Investition in die Zukunft.
Ja, aber: Eine stolze Investition. Mehrere Millionen werden ausgegeben, um die Zukunft durch eine rosarote Brille anzuschauen. Wie ist es denn mit den Investitionen für heute? Warum soll am Anfang eine superteure Bauanlage stehen und nicht ein Integrationsprogramm? Kommen die Immigranten in die Synagoge, weil diese so schön, strahlend und einladend wirkt oder weil sie in die Gemeinschaft der Juden in Deutschland integriert worden sind?
Ja: Da wird doch einiges getan, was zugegebenermaßen nicht so sichtbar ist. Für die Integration der angekommenen Juden müssen wir jetzt allerdings nicht mehr so viel ausgeben wie früher, denn die Zahl der Kontingentflüchtlinge ist seit zwei Jahren stabil. Es kommen kaum neue, auch wenn es uns vor zwei Jahren anders versprochen wurde. Die, die schon da sind, werden einander schon irgendwie helfen. Damit kommen wir aber schon wieder vom Thema ab. Durch den Bau anspruchsvoller Gemeindezentren, die mit ihrer Umgebung kontrastieren, setzen wir ein weltweit sichtbares Zeichen. Genauso wie beim Jüdischen Museum und dem Mahnmal in Berlin.
Ja, aber: Darüber kann man auch anderer Meinung sein. Über den faktischen Stopp der Zuwanderung und die stotternde Integration erst recht, jetzt will ich mich aber auf die beiden Baubeispiele konzentrieren. Politiker und Medien können die Deutungen vorgeben, so viel sie wollen. Ein Gebäude spricht aber für sich. Das Mahnmal in Berlin erlebte inzwischen unzählige Deutungen, und doch sagt es etwas ganz Bestimmtes aus. Es sind mehrere Grabsteine, zwischen denen man geht, und mit dem Erlebnis der Begehung wird man konfrontiert. Beim etwaigen historischen Wissen und einer gewissen Empathie muss man sich unweigerlich vorstellen, dass es ein symbolischer Ort ist, stellvertretend für unzählige Tote der Nazizeit. Hätte der Architekt die Möglichkeit, würde er ganz Deutschland mit seinen Stelen bebauen. Insofern erfüllt das Mahnmal seine emotionale Aufgabe zu ermahnen. Die meisten Besucher verfügen allerdings nicht über die genannten Voraussetzungen und begehen den architektonischen Raum als Touristen oder Boulevardspaziergänger und nehmen seine rekreative Funktion wahr: Sie erholen sich beim Betreten und Begehen. Dies bringt Menschen zueinander und macht die ästhetische Komponente aus. Beide Blickwinkel geben dem Begehens- und Begegnungsort den speziellen kathartischen Sinn, anders als es auf einem Friedhof möglich wäre. Das Jüdische Museum in Berlin wirkt noch emotionaler. Ausstellungen müssen die unmittelbare Wirkung des gebrochenen Raums ständig überwinden und geraten damit immer wieder in einen beinahe vorprogrammierten Konflikt. Grundsätzlich wird hier dem Besucher die Lebenssituation eines KZ-Sträflings oder eines zum Tode verurteilten, auf die baldige Hinrichtung wartenden Menschen aufgezwungen, ohne Hoffnung, ohne Gnade.
Kann eine Synagoge als Bau das mittragen? Soll sie das? Soll sie ein unendlicher Stolperstein in der Zeit werden? Welche Geschichte soll sie, wenn überhaupt, verarbeiten? Die der jüdischen Diaspora? Die der deutschen Wahrnehmung der Shoa, gar des Judentums? Alle denken über die Zukunft nach, während es den Juden ein ureigenes Bedürfnis ist, über die Vergangenheit nachzugrübeln - etwa so?
Ja: Das ist zu viel hineininterpretiert. Eine Synagoge müsste ein Gebetshaus sein und an den Tempel erinnern. Das Monumentale der neuesten Bauten lädt zu einem Dialog mit der Geschichte ein, macht auf sich aufmerksam, will bewundert werden. Ein Jude freut sich in München doch, an seine Wurzeln erinnert zu werden - vor einer angedeuteten Klagemauer zu stehen, hebräische Buchstaben der zehn Gebote zu sehen, und zu gleicher Zeit auch ein unverkennbares Sicherheitsgefühl zu haben. Sogar der obere Kubus wird durch das Kupfergewebe wunderbar abgesichert, ohne zu stören. Man hat hier alles zusammen: Ein jüdisches Viertel inmitten der Großstadt.
Ja, aber: Dem muss ich widersprechen. Erstens brauchen Juden in Deutschland viel eher eine wahre Sicherheit. Zum Beispiel, Geschäfte mit koscheren Produkten, Restaurants, kurzum die selbstverständliche Möglichkeit sich als Juden zu zeigen, und das nicht nur im Gemeindezentrum. Das wird kaum angeboten, da die so genannte Sicherheitslage es nicht zulässt. Ein jüdisches Viertel ist doch etwas anderes als eine abgesicherte und in sich abgeschirmte Festung, gar ein Ghetto, nur platziert im Stadtzentrum. Heutige Juden wohnen irgendwo in einer Stadt zerstreut und zeigen sich normalerweise nicht als solche, nicht einmal durch eine Mesusa an ihren Türen. Ein israelischer Rabbiner wollte Juden in einer deutschen Stadt aufsuchen und ging umher in dem sicheren Glauben, deren Wohnungen an den Türpfosten erkennen zu können. Er fand keine und war traurig: „Wo sind Juden in dieser Stadt“? Zweitens gab es in Deutschland schon eine Bautradition für Synagogen, aus der Zeit vor 1933. Wenn ich mir Fotos und Zeichnungen von damals anschaue, kommt es mir so vor, als wären Synagogen mehr dem Stadtbild angepasst. Die einen bescheiden, die anderen eher pompös folgten dem Geschmack der Zeit und waren in direktem Sinne zeitgemäß, unter anderem auch als Ausdruck der kulturellen Assimilation und beiderseitigen Akzeptanz.
Außerdem zeigen einige hervorragende Beispiele moderner Synagogen, dass es auch ganz anders als in Dresden oder München geht. Die Cimbalista-Synagoge (Mario Botta) in Tel Aviv ist sehr monumental und dabei keine Festung, sie ist zwischen der Erde und dem Himmel gespannt und vermittelt deswegen eine geistige Bewegung nach außen, sie öffnet sich. Sie ist auch offen für Besucher, zeigt eine Distanz zwischen Mensch und Gott und doch teilt sie die Betrachter nicht in Auserwählte und Ausgeschlossene. Und schließlich gibt es Beispiele auch in Deutschland, wie die Arbeiten von Alfred Jacobi in Chemnitz und Kassel, von Zvi Hecker in Duisburg, das Projekt von Manuel Herz in Mainz, welches noch auf seinen Bau wartet. Dabei zeichnet die Stadt- und Umgebungsfreundlichkeit alle Arbeiten von Jacoby aus - bei deren Vielfalt fällt das auf. Seine Synagogen suchen keine Konfrontation, spielen sich nicht wie Festungen auf. Sind sie eher einladend zum Dialog?
Ja: Sehr wahrscheinlich, die elliptische Form in Tel Aviv und Chemnitz ist fließender als der Kubus. Schon klar. Auf mich wirken die Bauwerke von Jacobi aber viel zu harmonisch, zu angepasst, eben zu assimiliert. Der Komplex von Hecker in Duisburg ist im Gegenteil vielmehr hermetisch oder esoterisch: Wer kann sofort, ohne Kommentare erkennen, dass darin Buchstaben verehrt werden und auf die jüdische Wertung der Bücher hingewiesen wird? Ist es eine klarere Aussage? Eher ein Enigma.
Ja, aber: Hier zeigt sich aus meiner Sicht etwas ganz anderes: Die Synagoge in Duisburg dominiert nicht, sondern wird zu einem Teil des Gemeindezentrums. Diese einladende Tendenz betrachte ich als stilbildend. Noch stärker bekennt sich die von Holz für Mainz geplante Synagoge zur Verankerung in der Stadt, sie strahlt auch die logozentrische Begeisterung aus und zeigt sich trotzdem viel intimer, vertrauter.
Ja: Dann frage ich zurück: Wer entscheidet darüber, was gebaut wird? Architekten, Bauherren, Geldgeber? Wer bestimmt die Tendenz?
Ja, aber: Sie sind sehr wahrscheinlich alle unterschiedlicher Meinung. Einige Architekten sind dafür, die jüdische Besonderheit zu betonen. Die anderen neigen dazu, Juden einen sicheren Platz in dem deutschen Milieu zu geben. Sie laden somit Juden ein, sich inmitten der Stadt heimisch zu fühlen. Die Bauherren denken möglicherweise viel mehr über die Sicherheit nach, und die Geldgeber wollen eine klare politische Aussage, von der wir schon zur Genüge gesprochen haben. Was dabei herauskommt, ist das Resultat, welches wir nun verstehen wollen, nicht allerdings als die Summe der zum Teil gegensätzlichen Positionen, sondern als Ganzes. Denn dieses Resultat beschreibt nicht nur, wie die jüdische Geschichte in Deutschland wahrgenommen wird, sondern legt auch fest, wie die jüdische Gegenwart vernommen und gedeutet wird, und das - für die Zukunft. Ist die heutige jüdische Kultur über die bunte pluralistische Palette der gebauten Gemeindezentren zu verstehen oder nur über eine der hier skizzierten Tendenzen? Erinnert uns das an die internen Streitigkeiten zwischen den orthodoxen und liberalen Gemeinden? Sind wir imstande, anstatt zu streiten – einander anzuerkennen?
Ja: Der Deutung des Gebauten messen Sie hiermit eine besondere Rolle zu.
Ja, aber: Genau. Wenn Sie sagen, eine Festung steht da und lädt ein, haben Sie eine Beschreibung und eine Deutung zusammengebracht, die nicht unbedingt zueinander passen.
Ja: Wenn Sie auf diese Weise ständig Ihre Skepsis verbreiten, kann man doch gleich die Hände in den Schoß legen und nichts tun!
Ja, aber: Na-na, warum denn so aufbrausend? Müssen wir denn einer Meinung sein, sind wir so monolithisch? Gehen wir doch noch einmal Ihre Argumentation durch.
Ja: OK, wurde die Synagoge in Dresden (Wandel, Hoefer, Lorch+Hirsch) als die beste Europäische Architektur 2002 ausgezeichnet?
Ja, aber: Ja. Sie ist sehr beeindruckend und erinnert an die Shoa. Wir sind schon wieder dort, wo wir angefangen haben. Ist hier das Jüdische anders, fremdartig? Wollen wir diese Wirkung?
Ja: Ich würde lieber monumental sagen. Und darin ist sie wie auch die Münchner Synagoge den anderen genannten Beispielen weit überlegen. Warum denn wollen Sie immer so bescheiden wirken? Bekennen Sie sich doch zu Ihren Wurzeln!
Ja, aber: Darf ich das bitte auch außerhalb der Festung tun? Ohne Polizeischutz?









Mutig in der Mitte

Diese Kolumne wurd auch für die "Jüdische Zeitung" geschrieben, erschienen im Novemer 2006.
«Wie ist denn Deine Frau so im Bett?» - «Die einen sagen so und die andern so.» Lachen wir über den derben Witz mit, nur um die Stimmung nicht zu verderben? Ist das witzig, wenn dem Mann die Untreue seiner Frau so wenig bedeutet oder weil er gar keine Meinung zu ihren Qualitäten hat? Hat der Typ überhaupt eine Meinung?
Nach der Welle antiisraelischer Demonstrationen, insgesamt mehr als 30 bundesweit, in den Medien ausführlich (mit antisemitischen Losungen, facettenreich bis zu kleinen Gewaltszenen am Rande) dargestellt, fragte ich einige Politiker, wie sie damit umgehen. Ein Innensenator merkte dazu an, der Organisator dieser Demos habe sich über die durch die Polizei gesetzten Auflagen beschwert. Viel mehr aber über die gegen die Hasstiraden erhobenen Worte der Stadtpolitiker. Die Jüdische Gemeinde sei jedoch auch unzufrieden, für sie sei damit immer noch zu wenig getan und zuviel erlaubt. „Die einen sagen so, die anderen so“. Dann sei er genau dazwischen, in der Mitte. Damit werde er allen gerecht!
Im Jahre 1999 hat sich die deutsche Regierung an einem Bündnisfall beteiligt, als sie gemeinsam mit anderen NATO-Staaten die Bombardierung im ehemaligen Jugoslawien angeordnet und durchgeführt hat. Dabei wurden nicht weniger als 1100 Streubomben eingesetzt. Nur durch Blindgänger dieser Art starben 150 Menschen. Darüber hat «Frontal21» 2004 ausführlich berichtet. Ganz gewiss ist diese Waffenart zu verbieten (wie übrigens auch viele andere, wie vielleicht der Krieg als Institution; ich würde dabei auch das schlechte Wetter verbieten, wenn’s denn ginge). Warum nur führte und führt die einzige bis heute «überlebende» Ministerin dieser Regierung, Wieczorek-Zeul, sich so auf, als wäre sie gar nicht dabei gewesen? Bevor sie sich zum weiteren moralischen Apostel vor den Toren Israels aufbaut, wäre vielleicht angebracht, zurückzutreten und sich von der Kriegsführung der eigenen Regierung zu distanzieren? Vielleicht auch eine UNO-Untersuchung zum eigenen Schweigen verlangen? Im eigenen Haus anfangen, wenn es moralisch so pressiert? Nein, sie hat die Kriegsregion besucht und «alles» inspiziert (na ja, eigentlich nur die Hisbollah-Bezirke, genau wie UN-Generalsekretär Annan). Anschließend hat sie den Vorwurf der Einseitigkeit zurückgewiesen und sich davon mutig distanziert.
Das Sich-distanzieren gerät mittlerweile zu einer Sportart. Bei einem Fußballspiel wurden vom unparteiischen Schiedsrichter und den übrigen Verantwortlichen 78 Minuten lang antisemitische Ausrufe gegenüber einer Makkabi-Mannschaft weggehört und geduldet. Infolgedessen musste das Spiel unterbrochen werden, was weder der Schiedsrichter noch die Trainerin der gegnerischen Mannschaft bis heute verstehen können. Der mutige Schiedsrichter sei, nach seinen Worten, «vorsichtshalber auf die Tribünenseite gegangen und habe gewartet, dass sich die Lage beruhigt». Die Trainerin äußerte sich noch brillanter: «Sollte es eine ausländerfeindliche Parole oder Hassparole gegeben haben, möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Verein […], die Mannschaft sowie ich als Trainerin sich davon strikt distanzieren.»
78 Minuten lang wird gehetzt, die Anwesenden distanzieren sich anstatt einzugreifen. Für Ruhe wird gesorgt, indem und damit sich alle gleich behandelt fühlen.
Persönlich sind sie alle für den Weltfrieden und gegen Antisemitismus, gegen Nazis und für die Demokratie, gegen Streubomben und für Streuhunde. Die Lehre aus der schlimmen NS-Zeit sei doch, die Freiheit der Andersdenkenden sichern zu müssen. Ah so.
In den schönen alten Sowjetzeiten, als noch das Selbstkritikzeremonial zum öffentlichen Ritual gehörte, gab einer auf die Frage, was er denke, vom Rednerpult zu: «Ich habe eine Meinung, bin aber mit ihr nicht einverstanden». Ein Innensenator kämpft gegen die Hetze, indem er sie zulässt. Eine Ministerin erlaubt einem anderen Staat nicht die Waffe, die sie anwenden ließ. Ein Schiedsrichter bestraft mit der roten Karte ausgerechnet diejenigen Spieler, die sich über Hassworte empören. Solche mutigen Helden liegen in ihrer Selbstwahrnehmung richtig, haben nur hier und da etwas dagegen. Denn die einen sagen so, die anderen so.

Vom schlechten Gewissen

Diese Kolumne wurde für die "Jüdische Zeitung" geschrieben, erschienen im Oktober Heft 2006.
Vor Jahren gehörte ich zu einer Gemeinschaft, die einmal auf die witzige Idee kam, für jeden Wochentag und jede Tagesstunde einem der Mitglieder für alles Schuld zuzuweisen, was einem so passieren kann. Einige wollten keinesfalls auf dieser Liste stehen, ich bestand darauf, pro Tag mindestens eine Stunde schuldig zu sein. Welcher Teufel hat mich dabei geritten? Warum war es mir wichtig, „Jesus zu spielen“, um es salopp auszudrücken?
Ich glaube heute, dies ist eine Frage nicht nur für meinen Therapeuten, denn sie trifft offensichtlich auf viele zu und nicht nur bei solchen Lappalien. Ein Staat wird existenziell von Anfang an gefährdet, wehrt sich, lernt mühsam mit der ständigen Bedrohung umzugehen, versucht kriegerische oder friedliche Signale auszusenden, eigene Fehler zu verarbeiten. Wie geht die Außenwelt damit um? Die einen unterstützen ihn – mit wirtschaftlicher oder auch nur ideeller Hilfe, durch Waffenlieferungen oder Baumpflanzungen. Die anderen bekriegen ihn – und das nicht nur mit Verdammungsworten, sondern mit allen Kampfmitteln. Es gibt eine dritte Partei. Deren Vertreter fühlen sich schuldig, egal was dieser Staat auch nur tut, egal, ob sie dafür verantwortlich gemacht werden oder nicht. Geht es ihm gut, könne es Neid bei seinen Gegnern auslösen. Geht es ihm schlecht, habe er versagt. Zeigt er sich milde, sei er zu schwach. Verteidigt er sich, benehme er sich unmoralisch.
Aus diesen und anderen Formeln spricht irgendein hochmoralischer Prediger, der immer ein schlechtes Gewissen hat. Anstatt dessen Gründe bei sich zu suchen, spielt er „Jesus“ – übernimmt Verantwortung für alles, was auf der Welt schief geht oder auch nur schief gehen kann. Födor Dostojewski und mit ihm Gustav Mahler konnten keine Ruhe finden, denn sie wussten: Irgendwo weint ein Kind. Sie haben Menschen gelehrt, mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Die heutigen Moralisten fühlen sich auch schuldig am Missglück auf der Erde, wollen aber den anderen ein schlechtes Gewissen einreden. Sie wenden sich ausschließlich an die anderen, an die, die angegriffen werden und sich verteidigen.
Neulich fand ich ein bemerkenswertes Szenario, wie man an einen Moralisten, der Selbstverteidigung für eine unangemessene Antwort hält, mit simplen Methoden herankommt:

1. Frag ihn, ob er eine militärische Reaktion akzeptiert.
2. Wenn er nein sagt, frag ihn, warum.
3. Höchstwahrscheinlich wird er in etwa sagen, „das verursacht viel Schaden für die unschuldigen Menschen und führt zu mehr Eskalation und Gewalt…“
4. Inmitten seiner Rede schlag ihm ins Gesicht.
5. Wenn er versucht zurückzuschlagen, erinnere ihn, dass dies zu mehr Eskalation und Gewalt führen wird.
6. Wenn er zustimmt, schlag ihn noch einmal.
7. Wiederhol Schritte 5-6, bis er die Moral verstanden hat.

Gibt es eine jüdische Moral? Sollte man zwischen dem jüdischen und nichtjüdischen Blick auf die Welt unterscheiden? Erinnern wir uns an eine alte Geschichte über zwei chassidische Brüder, Elimelech und Sussja. Sie waren auf einer langen Reise und mussten einmal auf einem Gasthof in einem kleinen Städtle übernachten. Sie hatten kein Geld in der Tasche und mussten nun zusehen, wie eine Hochzeit gefeiert wurde. Betrunkene Gäste hatten nichts Besseres zu tun, als zwei Unbekannte zu bespotten und dann auch zu beschimpfen. Sie machten sich ausgerechnet an Sussja heran und zwangen ihn zu tanzen und springen und verprügelten ihn anschließend, bevor sie ihn in Ruhe ließen. Eine Stunde später dennoch wollten sie ihn sich schon wieder vornehmen, so dass es auch diesmal dauerte, bevor er in die Ecke zu seinem Bruder zurückkehren durfte. “Warum musst du immer alles abkriegen, immer nur du? - flüsterte Elimelech zu ihm. - Das ist Gottes Wille, - stöhnte Sussja schwach.” “Weißt du, was wir machen könnten? Lass uns Plätze tauschen. Sie sind so volltrunken, dass sie es nicht merken werden. So verprügeln sie beim nächsten Mal mich, und du kannst dich ein wenig erholen.” Elimelech hat sich getäuscht. Als die Säufer wieder zu ihnen kamen, sagten sie zueinander: “Schaut mal her, die sind doch zu zweit. Und wir ehren nur einen von denen. Das ist ungerecht. Diesmal soll sein Freundchen etwas abbekommen…” Später sagte Sussja zu seinem Bruder: “Hast du verstanden? Von uns hängt nichts ab: Wir sind machtlos. Es steht alles aufgeschrieben.“
Das war einst die jüdische Moral. Das davor zitierte Dramolett, dessen moralische Quintessenz ganz anders schmeckt, stammt aus einem israelischen Weblog. Ich würde behaupten, da habe ein Volk Neues gelernt. Vielleicht kommt nach Jahrtausenden des schlechten Gewissens und der Bereitschaft, die gesamte Schuld der Welt auf sich zu nehmen, einmal eine andere Predigt als nur Stoa. „Das Wesen des Judentums“ muss deswegen nicht neu geschrieben werden. Lesen wir nicht nur ein gutes Buch, sondern lernen wir auch aus der Geschichte. Und lassen wir deren positive Lehre nicht nur für Israelis gelten.

Soldaten als Weihnachtsmänner

Nach der Ruhr-Triennale 2006 war es irgendwie unmöglich, den folgenden Text über die "Soldaten-Inszenierung unterzubringen. Übrig geblieben sind ein Exposé und ein kurzer Artikel in der russischen Sprache, erschienen stark gekürzt in der Zeitung "Vedomosti" am 9.11.2006.
Die Ruhr-Triennale 2006 glänzte mit der Inszenierung der Oper „Die Soldaten“ (1965) von Bernd Alois Zimmermann. Zum ersten Mal in der Werkgeschichte wurde daraus ein „totales Theater“ gemacht. Das Publikum wurde um das szenische Podest herum gefahren, eine einmalige technische Lösung, durch die Gegebenheiten der Bochumer Jahrhunderthalle ermöglicht. Daraus ist eine sehr starke emotionale Wirkung entstanden, wobei die Musik in der räumlichen Perspektive ganz anders wirkte als je. Das Ballett, die Pantomime, die szenische Bewegung bekamen durch das 120 Meter lange Podest eine fast rituelle Bedeutung.

Die musikalische Seite war gut vorbereitet, insbesondere gelungen - zwei Frauenrollen.

Das Problem der Inszenierung ist allerdings eine merkwürdige Abweichung in der Kernfrage vom Original. Zugegeben, es gibt bis dato keine Inszenierung, die den Wünschen des Autors voll und ganz entsprechen würde. Normalerweise suchten Regisseure ihre Deutung in der Zuspitzung der existenzialistischen Tendenzen des Werkes über das „Gejagtsein“ der Menschen im Zeitalter des Krieges. Zimmermann sah die Welt pessimistisch und setzte hier unter anderem auch seine persönliche Kriegserlebnisse um, die seine Gesundheit ruiniert und seinen Glauben an das Gute im Menschen erschüttert haben. Die Handlung läuft, nach seinen Angaben, „gestern, heute und morgen“, es hätten Filme, Geräusche des Krieges, Stöhnen und Rufe zu alledem kommen müssen, was in Bochum geboten wurde. Die Soldaten sind in der Oper ein Sinnbild der Zerstörung, die Krieg mit sich bringt, der körperlichen wie moralischen. Die Lenzsche Vorlage ist anders gemeint und ausgerichtet. Zu Beginn der Inszenierung marschieren die Soldaten langsam am Publikum vorbei, sie zeigen sich gewaltbereit, amüsieren sich, ziemlich genau den Partituranweisungen folgend. In den aber entscheidenden Gewaltszenen des vierten Aktes sind keine Soldaten mehr zu sehen. Plötzlich sind es maskierte „Schweine“ und gar Weihnachtsmänner, die Marie (Hauptfigur der Oper) vergewaltigen, brutal und erschreckend nah. Und das noch verdreifacht durch Doubles. Sind alle Männer Schweine, speziell Weihnachtsmänner? Das ist keine Kriegswelt mehr, keine existenzielle Angst, keine katholische Botschaft, sondern eine Entpolitisierung des Theaters, welches aus der Zeit eines Fassbinders, eines Bölls, eines Piscators stammt. Eine völlig andere Intention.

Über die Grenzen des Regietheaters wird gerne diskutiert, ganz zu recht, wenn Regisseure die früheren Werke wie von Mozart modernisieren, und dazu noch meist im Widerspruch zu Musik und Wort. Die zeitgenössischen Opern sind aber gerade dafür komponiert, um vom Regietheater aufgenommen und getragen zu werden. David Pountney, der britische Regisseur, hat hiermit das für das Regietheater erschaffene Werk technisch (als totales Theater) zum ersten Mal näher an das Original gebracht und zu gleicher Zeit inhaltlich ruiniert, ihm jegliche Aktualität genommen, gegen die Musik und das Wort.


Da kann etwas nicht stimmen

Ein Leserbrief für den "Weser Kurier", der auch gedruckt wurde, und zwar am 3.7.2006, mit Kürzungen. Das Original finde ich im Moment nicht...
Über Wagner gibt es immer einen guten Grund, zu streiten.
Zum Artikel "Pampiges Blech und schlampige Streicher" vom 26. Juni:
Wenn ein Kritiker ins Konzert geht, dann kann es passieren, dass ihm etwas so sehr nicht gefällt, dass er mit Interpreten streitet oder gar ins Gericht geht. Falls damit eine Wiese der Musen beschützt werden muss, ein Fehler eines großen oder eines kleinen Künstlers zur Sprache gebracht wird, warum nicht? Wenn sich dabei aber zeigt, dass der große Künstler in der fernen Hauptstadt vernichtend kritisiert wird und viele, viele mittelmäßige in der nahen Glocke tagaus, tagein gelobt werden, dann entsteht die Frage nach dem Maß der Dinge.

Kann es sein, dass etwas mit dem Kritiker oder gar mit der Zeitung nicht in Ordnung ist? Wenn so gut wie jedes Konzert zu Hause als ein Nonplusultra dargestellt und Simon Rattle mit den Berliner Philarmonikern niedergemacht wird, dann kann das einfach nicht stimmen. Ich bin beileibe kein Fan von Rattle und hätte einiges an seinen Arbeiten auszusetzen. Nicht so aber und nicht mit diesem Ziel. Pierre Boulez wurde in vergleichbarer Weise seinerzeit "national" getreten, als er in Bayreuth einen "schlankeren" Wagner wagte. Rattle wird nun vorgeworfen, dass er nicht deutschtümelt. Mein Gott, deswegen wurde ja mit ihm vor Jahren der Vertrag unterschrieben!

Andere Argumente hat der Doderer-Fachmann nicht. Was an der Interpretation Wagner selbst angeblich schadet, kommt in keinem Satz der Kritik zur Sprache. Es wird nur mit Karajan verglichen. Na dann fragen wir den Kritiker, warum denn soll Karajan als Wagner-Dirigent ein Vorbild sein? Warum nicht Furtwängler oder Böhm, Krauss oder Knappertsbusch, Swarowski oder Solti, Boulez oder Levine? Warum überhaupt soll nur eine einzige Tradition die richtige sein? Soll Wagner in Berlin für immer so gespielt werden, wie es Karajan 1967 getan hat? Warum wird Abbado in dem Kontext überhaupt erwähnt? Soll er für Rattle ein Vorbild in Sachen Wagner sein? Oder sind 40 Jahre ohne "Rheingold" auch ihm anzulasten?

DR. GRIGORI PANTIJELEW, BREMEN

Zahlenverzerrung in Kana

Der folgende Leserbrief vom 2.8.2006 war für die Süddeutsche Zeitung geschrieben und von derselben abgelehnt:
Angesichts der Empörungswellen, die seit letztem Sonntag durch die ersten Seiten schlagen, ist es sehr zu begrüßen, wenn das sogenannte "Kana-Massaker" am Mittwoch wenigstens auf der Seite 7 unten in Frage gestellt wird. Wenn Michael Tibudd dabei selbstentlastend meint, dass "das libanesische Rote Kreuz am Dienstag erstmals von 28 Toten sprach", dann irrt er allerdings. Die erste Nachricht kam bereits am Sonntag, und zwar vom internationalen Roten Kreuz, und wurde am späten Abend desselben Tages zuerst bei "Mideast on target" in Englisch verbloggt und bei "Sendungsbewusstsein" in Deutsch verlinkt. Zweitens sind Blogger sich einig, dass es um eine bewusste Verzerrung der Zahlen geht und nicht um die zusätzlich nach Kana gebrachten Leichen (das heißt, die Toten wurden einfach zweimal gezählt!). Drittens zeigt die Analyse der Fotos, die bei "Eureferendum" vorbildlich durchgeführt wurde, dass der "Helfer" nicht nur dieselbe Kinderleiche mindestens 6 Stunden vor die Kamera hält, sondern sich auch inzwischen umkleidet, was bei der Erwiderung der AP Deutschland keine Erwähnung findet. Wie auch die Tatsache, dass die Fotos ausschliesslich von der Hisbollah vermittelt wurden, da sie keine unabhängigen Journalisten ins Dorf gelassen hat. Die Aufgabe einer Zeitung würde ich außerdem nicht nur darin sehen, Meldungen von Bloggern nachzudrucken, sondern viel mehr darin, weitere professionelle Recherche einzuleiten, wie zum Beispiel eine pathoanatomische sowie kriminalistische Untersuchung der zahlreichen Fotos, die viel durch die Analyse von vorhandenen Verwesungszeichen und nicht vorhandener Verstaubung erzählen können.
Dr. Grigori Pantijelew, Bremen

Exklusive Minderheit

Im Sommer 2006 hat Rolf Verleger auf sich aufmerksam gemacht. Dazu haben Elvira Noa und ich einen Leserbrief an die TAZ geschickt. Die Zeitung hat den Brief am 16.8.2006 gedruckt, mit einigen bemerkenswerten Kürzungen. Sie sind im folgenden kursiv hervorgehoben:
Seit Anfang des Krieges im Nahen Osten führen einige deutsche Medien ihren eigenen kleinen Kampf. Mit der unausgewogenen Darstellung der Abläufe werden nicht nur Vorurteile bedient, sondern auch eine gezielte Meinungspolitik betrieben. Anstatt über Ereignisse unparteiisch zu berichten, wird überwiegend eine Meinung ausgesprochen. Und wenn sich die angestellten Journalisten schon mehrere Male ausgesprochen haben, dann sortieren sie Leserbriefe bewusst und - als Krönung – suchen und finden „gute Juden“, die dieselbe so genannte „israelkritische“ Meinung der Redaktion bestätigen. Die Balance wird dabei so sehr vernachlässigt, dass sich eine Journalistin bei einem Telefoninterview mit uns erlaubt, anstatt sich auf eine Diskussion einzulassen, die von uns beklagte Einseitigkeit von vornherein zu negieren. Stattdessen legt sie uns ihre Meinung in den Mund und lässt es drucken.
Wie kommt es, dass ein interner Brief einer jüdischen Organisation, nämlich des Zentralrates der Juden in Deutschland, derart begeistert von den Medien zitiert wird? Etwa deshalb, weil er eine Gegenmeinung zu der offiziell ausgesprochenen vertritt? Warum agieren TAZ und „Süddeutsche“ wie Boulevardzeitungen, wenn es um Juden geht? Warum wird immer wieder der Zentralrat der Juden belehrt, was er zu der Lage in Israel und zu den falschen Kommentaren deutscher Politiker zu sagen habe? Hat die eine oder die andere Zeitung nur ein einziges Mal Vertreter der libanesischen oder palästinensischen Vereinigungen nach ihrer kritischen Haltung gegenüber der Hisbollah bzw. der Hamas befragt? Es waren Juden, die diese Zeitungen darauf aufmerksam machen mussten, dass auf den bis dato verschwiegenen Demos bundesweit antisemitische Parolen ausgerufen werden. Die tapferen Journalisten kamen selbst nicht darauf. Sie beschäftigten sich bestimmt viel zu intensiv mit der Suche nach „guten Juden“. Immer wieder wird der eine oder der andere Politiker dafür verteidigt, dass er oder sie Falsches behauptet. Mal werden Hunderte von abgeschossenen Hisbollah-Raketen verschwiegen, um dann naiv zu fragen, wie man wegen zwei entführter Soldaten in den Krieg gehen könne (die getöteten acht Soldaten werden dabei vergessen). Mal platziert man inszenierte Fotos groß auf der ersten Seite, ohne sich dafür später zu entschuldigen. Mal wird die Zahl der zivilen Opfer vierzigmal höher angesetzt und ohne Dementi beibehalten.
Es gibt sowohl ausgewogene Berichte als auch objektiv argumentierende Meinungsbeiträge. Es lässt sich auch dazwischen unterscheiden, wer einseitig und wer unausgewogen schreibt. Die Art allerdings, mit welcher der Brief von Rolf Verleger dieser Tage ausgeschlachtet wird, macht uns Sorgen. Nicht der Brief – und damit die Position eines einzelnen - wird streitbar genannt, sondern die Meinung des Zentralrates. Wird Verleger so ausgiebig zitiert, weil er eine exklusive Minderheit vertritt, oder weil er die Meinung der Redaktion ausspricht?
Wir sind bereit uns zu streiten: Judentum beinhaltet eine ausdrückliche Streitkultur, um damit erst die ethischen Maßstäbe erreichen zu können (Zwei Juden bedeutet: Drei Meinungen :-). Bei der Berichterstattung würden wir aber gerne auch das moralische Augenmaß, das heißt Ausgewogenheit, gewahrt wissen. Es wäre schön, wenn die Medien bereit sind, auch darüber zu diskutieren.
Elvira Noa, Dr. Grigori Pantijelew, Direktoriumsmitglieder des Zentralrates der Juden in Deutschland, Bremen

Ideologen, Moralisten, Friedensstifter?

Man könnte Judt zum dritten Mal sagen - die "Jüdische Zeitung" hat den Text übernommen, erschienen im September Heft 2006:
Während der Krieg gegen Israel vorerst stillgelegt wurde, müssen wir uns dem Schwall „israelkritischer“ Publikationen in den Weg stellen. Dies überlässt die deutsche Presse meist so genannten guten Juden, die das sagen dürfen, was ein Antisemit lieber für sich behält. Federführend ist hierin die Süddeutsche Zeitung, die gar zweimal nacheinander einen prominenten guten Juden vorgestellt hat.
Tony Judt ist ein Historiker. Eine seiner Kernaussagen ist das hochmoralische Verdikt über den „anachronistischen“ Staat Israel: „Vor 1967 mag der Staat Israel winzig und umkämpft gewesen sein, aber in der Regel wurde er nicht gehasst – sicherlich nicht im Westen.“
Eine auf Dokumenten basierende Untersuchung würde zu anderen Schlüssen führen. Nämlich, dass Israel auch vor 1967 einseitig kritisch beäugt wird. 1948-1949: Der Weltsicherheitsrat verurteilt den Angriff der arabischen Länder auf Israel nicht. 1956: Die UN verurteilt das Verhalten Israels im Konflikt Syrien-Israel (1962 noch einmal), genauso in den Konflikten Ägypten-Israel (1955), Jordanien-Israel (1961, 1966). 1960: Die Entführung von Eichmann wird als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingestuft. Noch bedrückender wirken Zahlen der Resolutionen der UN-Generalversammlung zwischen 1947 und 1989: Israel wurde 321 Mal verurteilt, die arabischen Länder kein einziges Mal!
Warum legt Judt die Hass-Schwelle auf 1967 und nicht auf das Attentat auf die israelische Olympiamannschaft im Jahre 1972 in München? Warum „winzig“, warum „umkämpft“? Schreiben Historiker so?
Judt weiter: „Rückblickend erkennen wir, dass Israels Sieg im Juni 1967 und seine fortwährende Besetzung der eroberten Gebiete zu seiner eigenen Nakba wurden: eine moralische und politische Katastrophe.“ Wir erkennen das nicht und hören eher die Stimme Ephraim Kishons („Wie Israel sich die Sympathien der Welt verscherzte“, 1962, „Pardon wir haben gewonnen“, 1968). Judt erwähnt nicht, dass die im Krieg 1956 eroberten Gebiete 1957 zurückgegeben wurden und Israel dadurch keinen sicheren Frieden gewann.
Er vergleicht Israel mit „einem Besatzer und Kolonialisten“. Die reale Politik, die Konfrontation der Staaten, bei welcher arabische Staaten den Krieg als Mittel der „Umkämpfung“ verwenden, die Notwendigkeit, auf diese Herausforderung zu antworten – auch als „Demokratie und Anständigkeit“ – passt nicht zu seiner Vorstellung einer „moralischen Glaubwürdigkeit“. Für ihn verhält sich Israel „unnormal“, das wird aber gleich zum globalen Urteil der Geschichte.
Emmanuele Ottolenghi wies jüngst auf diesen Zusammenhang hin: „Für Judt ist der moderne europäische Antisemitismus, insofern er existiert, das insgesamt vorhersehbare Resultat des schlechten Verhaltens der Juden (in dem Fall, Israelis). Und so wie die israelischen Juden selbst die Schuld dafür tragen, dass die aufgeklärte Welt sie verurteilt, so können sie ihr Leiden erleichtern, und mit ihnen übrigens auch alle anderen Juden auf der ganzen Welt, die zusammen mit ihnen den schwarzen Brief bekommen haben, und zwar durch ausgleichende Akte der Selbstzerstörung und Reorganisation.“ (Dieses Fragment wurde in der deutschen Übersetzung in der „Welt“ ausgelassen.)
Judt will nicht als „De-facto-Kollaborateur des israelischen Fehlverhaltens“ angesehen werden. Und wenn er doch die Angst hat, mit dem „winzigen“ Land in Verbindung gebracht zu werden, das dazu noch „kaum relevant“ ist, dann ist er sofort bereit, diesen Staat aufzugeben (nach seinen Worten, „etwas Abstand von Israel zu nehmen“). Theodor Lessing hat dies als „jüdischen Selbsthass“ bezeichnet.
Judts Vorschlag eines binationalen Israels war mal eine linke Utopie, die von einigen Zionisten (Martin Buber hat seine Vision anders formuliert als die geistigen Vorbilder Judts - Edward Said und Noam Chomsky) in den 30-40er Jahren formuliert und von der UN bei der Gründung des Staates Israel abgelehnt wurde. Dieser Plan hat sich als nicht verwirklichbar erwiesen, denn er setzt die beiderseitige Bereitschaft zur friedlichen Koexistenz voraus. Das Ansinnen scheiterte an den Positionen der arabischen, insbesondere islamistischen geistigen Führer, deren grundsätzliche Ablehnung 1948 formuliert, noch einmal 1967 bestätigt und bis heute nicht zurückgenommen wurde. Sie lautet: „Arabische Staaten bleiben ihren Hauptprinzipien treu: kein Frieden mit Israel, keine Anerkennung Israels, keine Verhandlungen mit Israel und Beharren auf den Rechten des palästinensischen Volkes auf ihren eigenen Staat.“ Die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ ist 1964 entstanden, als keine Landflächen von Israel besetzt waren. Der Name bezieht sich auf das gesamte Palästina in seinen Grenzen vor der Gründung Israels. Inzwischen halten sich nicht mehr alle arabischen Staaten an die Khartumer Deklaration, die Arafat- und Abbas-Manifeste wurden seit 1996 mäßiger. Die Hamas-Regierung bleibt aber weiterhin diesen drei „Nein“ treu und zieht jetzt, nach dem berüchtigten „Papier der Gefangenen“, auch Abbas auf ihre Seite zurück. Wer weiß zum Beispiel, dass der Libanon bis heute Israel nicht anerkannt hat?
Judts Vorschlag ist eine pseudomoralische, einseitige Utopie. Zu Ende gedacht ist dieser Vorschlag ein Todesurteil, wie Leon Wieseltier konstatierte: „Ein binationaler Staat ist keine Alternative für Israel. Es ist die Alternative zu Israel.“
Der Student Judt hat die Kibbuz-Begeisterung um sich herum in den Jahren vor 1967 für die weltweite Akzeptanz Israels gehalten. Der Hochschullehrer Judt sieht 2006 aufgrund der unreifen Polemik einiger Studenten seiner Universität das Versagen Israels weltweit als bewiesen. Weil Judt seinen Studenten nicht erklären will oder kann, worin der Unterschied zwischen Francos Spanien und Scharons/Olmerts Israel besteht, soll Israel seine Politik grundsätzlich ändern und sich am besten auflösen. Ist dies die Logik eines Historikers?
Es lässt sich nicht vermeiden, den allzu persönlichen Charakter der Thesen Judts aufzudecken – er spricht vom monolithischen Westen, er erwähnt pauschalisierend „alle anderen“ und konkret die gesamte „nichtkommunistische Linke“, meint aber immer und immer wieder nur sich selbst. Geboren 1948, sollte er eigentlich genauso reif sein wie der Staat, den er so vehement der Unreife beschuldigt. Als Jugendlicher beteiligte er sich an der zionistischen Bewegung und half bei der Immigration britischer Juden nach Israel. Direkt nach dem Krieg 1967 ging er nach Israel und dolmetschte für die Armee. Er träumte von einem sozialistischen Israel und kehrte bald enttäuscht zurück. Man fühlt sich an einen hierzulande bekannten Schriftsteller erinnert, der aus eigenen Empfindungen eine Geschichtsvision und daraus im Umkehrschluss drohende „Moralkeulen“ entstehen ließ.
Judt wurde in seiner eigenen Entwicklung maßgeblich durch den oben erwähnten Professor der komparativen Literaturforschung Edward Said beeinflusst, über den Judt 2004 einen großen Nachruf in tiefster Verehrung schrieb. Judt übernimmt die Ideen und die Argumentation Saids, setzt seine Ideologisierung der neuesten Geschichtsschreibung fort. Said geht es um die palästinensische Beherrschung der Narrative, des Vokabulars. Sein berühmtester Satz ist wie ein Manifest: „Jeder Europäer, der etwas über den Orient sagte, war ein Rassist, ein Imperialist und fast völlig ethnozentrisch“. Begriffe wie „die palästinensische Katastrophe von 1948“, „unseliges Suez-Abenteuer von 1956“, „katastrophale Invasion des Libanon“, Ausdrücke wie „Israel konnte immer noch tun und lassen, was es wollte“, „Instrumentalisierung des Holocausts“ übernimmt Judt aus der palästinensischen Propagandaküche, sie sind Produkte der Palästinenser-Lobby. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum mehrere Artikel des Moralisten Judt seit Jahren übersetzt werden und bis dato kein einziger von Ephraim Karsh, ohne dessen Bücher das geschichtliche Wissen über die Gründung des Staates Israel, über den Krieg 1948, über die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ und Arafat, die gesamte israelische Geschichtsschreibung kaum vollgültig genannt werden kann.
Was bei Judt übrig bleibt, ist eine pseudolinke Phraseologie aus den schönen alten Sechzigern. Sein Versuch, die berechtigten Vorwürfe des Schürens antisemitischer Formeln dabei mit einer „antisemitischen Keule“ im Voraus abzuwehren, schlägt zurück, wie immer. Der Erfolg seiner Texte bei den Antisemiten Rechtsaußen wie Linksaußen ist ein deutliches Zeichen – der gültige Beweis, wie leidvoll die Rhetorik einer Schlussstrich-Mentalität wirkt.
Seine Ideen leben aber auch in der Mitte der Gesellschaft weiter, wie der Appell eines Friedenstifters Navid Kermani zeigt, selbstverständlich in der „Süddeutschen“. Kermani sieht „den Daseinsgrund Israels in seiner Moralität“. Seine Frage ist, „welches Interesse haben wir an Israel?“ Seine Antwort: Nur wenn „Israel sein humanes Antlitz bewahrt“. Und weiter: „Israel ist auf Moral angewiesen, um zu überleben“.
Wieder pluralis majestatis, wieder eine überlegene Perspektive eines moralischen Zeigefingers. Und wieder eine Doppelmoral in ihrer bekannten Einseitigkeit. Am krassesten drückt dies Peter Sloterdijk aus, der im „Kölner Stadt-Anzeiger“ Israels Politik „moralisch inkommensurabel“ genannt hat. Für Richard Cohen („Washington Post“) ist Israel gar ein „Fehler“. Alles Moralisten. Au weia, o Gewalt!

Judt zum zweiten

Den größeren Artikel wollte keine Zeitung drucken. Die Liste erspare ich dem Leser. Hier folgt die Fassung vom 25.5.2006:
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Staat Israel gehört seit seiner Gründung zu den heikelsten Themen in der deutschen Presse. Insofern verwundert die provozierende Klarheit der Historikers Tony Judt, mit welcher er neulich zweimal nacheinander in SZ seine Thesen vorstellen durfte.
Eine seiner Kernaussagen war die Behauptung (noch vor dem Essay von Walt/Mearsheimer formuliert, aber jetzt ausführlicher dargestellt), dass die Israel-Lobby den USA sowie Israel schade. Auch über den „anachronistischen“ Staat Israel hat er schon mehrmals sein Verdikt getan. Soll man das ignorieren? Sollten Israelis selbst damit fertig werden, wenn sie schon in ihren Zeitungen solche Texte drucken, - nach dem Motto, wir drucken es nur nach? Nein. Warum? Weil seine Artikel erstens als die eines Historikers eingeführt werden. Weil zweitens weder seine falsche Prämissen dem deutschsprachigen Leser offen gelegt noch die mehr als nur ernstzunehmende amerikanischsprachige Kritik bekannt gemacht wird.
An einem Schlüsselbeispiel möchte ich zeigen, wie vereinfachend und undifferenziert Judt argumentiert. Er schreibt: „Vor 1967 mag der Staat Israel winzig und umkämpft gewesen sein, aber in der Regel wurde er nicht gehasst – sicherlich nicht im Westen. Der offizielle Sowjetkommunismus war natürlich antizionistisch, aber gerade aus diesem Grund war Israel bei allen anderen normalerweise gut angesehen, einschließlich der nichtkommunistischen Linken.“
Seine Thesen sind hier: Israel sei winzig (1), umkämpft (2), vor 1967 in der Regel gut angesehen im Westen, sogar bei der nichtkommunistischen Linken (3), dafür aber die Zielscheibe des Sowjetkommunismus (4).
Eine auf Dokumenten basierende Untersuchung würde zu anderen Schlüssen führen. Judt verfügt nicht über die Befragungsergebnisse aus dem Zeitraum weltweit, um seine Thesen zu belegen. Im Gegenteil lässt sich nachweisen, dass Israel auch vor 1967 einseitig kritisch beäugt wurde: 1948-1949: Die UNO (Sicherheitsrat) verurteilt den Angriff der arabischen Länder auf Israel nicht (die UdSSR enthält sich bei der Abstimmung über die an beide Kriegsparteien gerichtete Beschwichtigungen). 1956: Die Uno verurteilt das Verhalten Israels im Konflikt Syrien-Israel (einstimmig), genauso im Konflikt Ägypten-Israel (1955). 1960: Die Uno betrachtet die Entführung von Eichmann als ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“(8 Stimmen dafür, 2 enthalten u.a. die UdSSR). 1961: Die Uno vertritt die Interessen Jordaniens gegen Israel (die UdSSR enthält sich auch hier). 1962: Die Uno verurteilt das Verhalten Israels im Konflikt Syrien-Israel (Enthaltung nur Frankreich). 1966: Israel wird für den Angriff auf Jordanien scharf verurteilt (Neuseeland enthält sich). 1967: Israel wird für die Landbesetzung während des Krieges verurteilt (einstimmig).
Das zeigt: Israel war auch vor 1967 nicht gut angesehen bei der UNO, die SU distanzierte sich offiziell von der Verurteilung der Politik Israels deutlicher als alle anderen Großmächte. (Erst später beginnt die SU die arabischen Terroristen zu unterstützen, die USA positionieren sich auf der Seite Israels, der Kalte Krieg erreicht den Nahen Osten.)
Völlig unklar bleibt, was Judt mit dem Begriff „umkämpft“ meint. Kriegerisch (angegriffen von mehreren arabischen Nachbarstaaten) oder völkerrechtsmäßig (fast alle arabischen Länder erkennen bis heute das Existenzrecht Israels nicht an)? Toleriert der sonst so moralisch auftretende Judt diese Fakten stillschweigend, genauso wie der Sicherheitsrat das mit seinen Resolutionen tat? Ob ein Staat „winzig“ sein mag oder nicht – was sagt das über den Historiker, der den Begriff in dem Kontext der Debatte verwendet? Ist der Begriff Hass im Bezug auf einen Staat eine „normale“ geschichtliche Kategorie? Was ist für Judt die nichtkommunistische Linke in der Zeit vor 1967, wie relevant ist diese Kategorie im Bezug auf die Einstellung zum Existenzrecht Israels? Warum legt er die Grenze der Änderungen auf 1967 und nicht auf das Attentat auf die israelische Olympiamannschaft im Jahre 1972 in München? All diese Fragen zeigen die Widersprüchlichkeit der These, die Judt aufstellt. Judt schreibt weiter: „Rückblickend erkennen wir, dass Israels Sieg im Juni 1967 und seine fortwährende Besetzung der eroberten Gebiete zu seiner eigenen Nakba wurden: eine moralische und politische Katastrophe.“ Wir erkennen das nicht, weder von alleine, noch durch Judts nicht vorhandene Argumente (man hört die Stimme Ephraim Kishons in seinen Satiren „Wie Israel sich die Sympathien der Welt verscherzte“, 1962, „Pardon wir haben gewonnen“, 1968). Er erwähnt dabei nicht, dass die Gebiete, die Israel im Krieg 1956 erobert hatte, 1957 zurückgegeben wurden und Israel dadurch keinen sicheren Frieden gewonnen hat. Allein dies zeigt die Einseitigkeit der Geschichtsschreibung bei Judt. Er sieht nur die eine Seite und urteilt, schreibt Bosheiten der einen Seite auf und verschweigt Bosheiten der anderen Seite. Das nennt man parteiisch. Er redet von der „Weltmeinung“ und von „politischen Karikaturen“. Was er dabei aufzählt, ist der Bestand der antiisraelischen Propaganda, von Antizionisten eingeleitet und nun zur „Weltmeinung“ gekrönt.
Judt vergleicht Israel mit „einem Besatzer und Kolonialisten“, meint dies aber (da er seine Vergleiche nicht untermauert) nicht real, sondern als Urteil aus der Position heraus, die bei ihm „moralische Glaubwürdigkeit“ heißt. Die reale Politik, die Konfrontation der Staaten, bei welcher Krieg als Mittel der „Umkämpfung“ verwendet wird, die Notwendigkeit, auf diese Herausforderung zu antworten – auch als „Demokratie und Anständigkeit“ – passt nicht zu seiner Vorstellung von der moralischen Glaubwürdigkeit. Für ihn verhält sich Israel „unnormal“, das wird aber als globales Urteil der Geschichte formuliert - nicht mehr, nicht weniger.
Emmanuele Ottolenghi wies jüngst auf diesen Zusammenhang hin: „Für Judt ist der moderne europäische Antisemitismus, insofern er existiert, das insgesamt vorhersehbare Resultat des schlechten Verhaltens der Juden (in dem Fall, Israelis). Und so wie die israelischen Juden selbst die Schuld dafür tragen, dass die aufgeklärte Welt sie verurteilt, so können sie ihr Leiden erleichtern, und mit ihnen übrigens auch alle anderen Juden auf der ganzen Welt, die zusammen mit ihnen den schwarzen Brief bekommen haben, - und zwar durch ausgleichende Akte der Selbstzerstörung und Reorganisation.“ (Dieses Fragment über Judt wurde in der deutschen Übersetzung des Artikels von Ottolenghi in der „Welt“ ausgelassen.)
Judt will auch diesmal nicht „mit der falschen Gesellschaft“ in Verbindung gebracht, nicht als „De-facto-Kollaborateur des israelischen Fehlverhaltens“ angesehen werden. Der jüdische Staat hat moralischen Ansprüchen eines linken Intellektuellen eher zu entsprechen als jeder andere. Seine Argumentationskette ist einfach: „Für viele Millionen Menschen ist Israel tatsächlich der Staat aller Juden.“ Das ist kein Fakt, sondern eine Behauptung, dazu noch eine falsche: Es gibt viele Juden, die nicht in Israel wohnen und sich nicht mit dem Land identifizieren, und es gibt viele Millionen Menschen, für die Israel der Staat der Israelis ist und nicht nur der Juden. Dann folgt die nächste These: die USA seien „das einzige Land der Welt, in dem die Behauptung, dass Antizionismus gleich Antisemitismus sei, bis heute nicht nur die Meinung vieler Juden ist, sondern auch in den öffentlichen Erklärungen von Politikern und Massenmedien ihren Widerhall findet.“ In dieser Behauptung über eine „Behauptung“ (in der Tat eine Wahrheit) sind auch gleich mehrere problematische Umdeutungen verknüpft: Antizionismus ist heute nach wie vor dem Antisemitismus gleichzusetzen, auch wenn Judt das nicht anerkennt. Wenn dem Staat Israel kein Existenzrecht zugebilligt wird, dann sind seine Bürger existenziell und vital betroffen und nicht nur seine Grenzen. Die USA stehen in dieser Hinsicht nicht alleine da, und diese Sicht der Dinge teilt da die Mehrheit der Bevölkerung, nicht nur die Massenmedien und Politiker. Und wenn Judt die Angst hat, mit dem „kleinen“ Land in Verbindung gebracht zu werden, das dazu noch „kaum relevant“ ist (im englischen Original ist weiter von „strategischer Belastung“ die Rede), dann kann es nicht verwundern, dass er bereit ist, diesen Staat, der dazu noch nicht sein eigener ist, aufzugeben (nach seinen Worten, „etwas Abstand von Israel zu nehmen“). In der deutschen Literatur hat Theodor Lessing dafür den Begriff „des jüdischen Selbsthasses“ eingeführt. Und wenn Judt alle Juden für die tatsächlichen Versäumnisse oder gar Verbrechen einiger Israelis (seien es Soldaten, Siedler oder gar Politiker) mitverantwortlich machen will, dann sitzt er wieder in der Falle antisemitischer Verallgemeinerungen.
Sein Vorschlag eines binationalen Staates Israel ist eine linke Utopie, die von einigen Zionisten (Martin Buber war unter ihnen der größte Denker und hat seine Vision anders formuliert als geistige Vorbilder Judts - Edward Said und Noam Chomsky) in den 30-40er Jahren formuliert und von der UNO bei der Gründung des Staates Israel abgelehnt wurde. Dieser Vorschlag hat sich als nicht verwirklichbar erwiesen, denn er setzt die beiderseitige Bereitschaft einer friedlichen Koexistenz voraus. Das Ansinnen scheiterte an den Positionen der arabischen, insbesondere islamistischen geistigen Führer, deren grundsätzliche Ablehnung 1948 formuliert, noch einmal 1967 bestätigt und bis heute nicht zurückgenommen wurde. Sie lautet: „Arabische Staaten bleiben ihren Hauptprinzipien treu: kein Frieden mit Israel, keine Anerkennung Israels, keine Verhandlungen mit Israel und Beharren auf den Rechten des palästinensischen Volkes auf ihren eigenen Staat.“ Die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ ist 1964 entstanden, als keine Landflächen von Israel besetzt waren, der Titel bezieht sich auf das gesamte Palästina in seinen Grenzen vor der Gründung des Staates Israel. Inzwischen halten sich nicht mehr alle arabischen Staaten bei der Khartumer Deklaration, die Arafats- und Abbas-Manifeste wurden (seit 1996) mäßiger. Die Hamas-Regierung hält sich aber weiterhin an diese drei „Nein“, das ist kein Zufall, sondern Folge langjähriger Propaganda. Aber auch wenn Judts These unabhängig von dem konkreten nahöstlichen Bezug betrachtet wird, bleibt sie nicht haltbar. Judt will das nicht mal diskutieren und macht sich keine Gedanken über die Prototypen, geschichtliche Parallelen (z.B. Pakistan/Indien). Sein Vorschlag ist eine moralisch bedingte Utopie. Zu Ende gedacht ist dieser Vorschlag ein Todesurteil, wie Leon Wieseltier bei der Erwiderung auf einen anderen Artikel Judts konstatierte: „Ein binationaler Staat ist keine Alternative für Israel. Es ist die Alternative zu Israel.“ Wirtschaftliche und Handelsbeziehungen Israels zu anderen Ländern wachsen, Israel nimmt zunehmend aktivere Positionen in der humanitären Hilfe weltweit ein – das sind Beweise von vielen, dass Israel keinesfalls so isoliert und unreif ist, wie Judt es sieht.
Sein Beispiel einer israelkritischen Reaktion von Studenten, das als Beleg für den Zustand „fünf vor zwölf“ dienen soll, ist die Krönung seiner Argumentation. Der Student Judt hat in den Jahren vor 1967 die Kibbuz-Begeisterung um sich herum für die weltweite Akzeptanz Israels gehalten. Der Hochschullehrer Judt sieht im Jahre 2006 das Versagen Israels weltweit aufgrund der unreifen Polemik von einigen Studenten einer Gruppe einer Universität als bewiesen. Die zunehmende Politisierung des Unterrichtes an den einzelnen amerikanischen Universitäten ist kein unbekanntes Thema, seit neuem sind auch Beweise für die lobbyistische Tätigkeit der arabischen Geldgeber in dieser Richtung vorgelegt, insbesondere ging es dabei um den ehemaligen Fachbereich von Edward Said. Weil Judt seinen Studenten nicht erklären will oder kann, worin der Unterschied zwischen Francos Spanien und Scharons/Olmerts Israel besteht, soll also Israel seine Politik grundsätzlich ändern und sich am besten auflösen. Soll dies die Logik eines Historikers sein?
Sein Vergleich der historischen Perspektive Rom-Israel vor 2000 Jahren versus USA-Israel von heute ist genauso absurd, unbelegbar, irreführend. Sein Aufruf, die Hamas „durch ernsthafte Angebote „herauszufordern“, ist blinder Utopismus: Die Hamas will Israel nicht anerkennen, sie hat es immer gesagt und jeden Tag dieses Jahres wiederholt.
Zuletzt noch zu dem Vorwurf des Kolonialismus. Judt gibt die Kolonisierung für den Kolonialismus aus. Israelische Siedler bauen Siedlungen auf den besetzten Gebieten, zum Teil mit Unterstützung der eigenen Regierung, was stets und zu Recht kritisiert wurde. Man könnte das als Landraub, Expansion bezeichnen und den politischen Druck auf die israelische Regierung ausüben. Es ist aber auch dann immer noch kein Kolonialismus. Angesichts des Gazaabzugs und der weiteren Abzugspläne kann man auch deutlich sehen, dass sowohl interne Kritik als auch die von außen Früchte bringen. Judts Satz - Kolonien seien „immer zum Untergang verurteilt, außer man ist entschlossen, die eingeborene Bevölkerung zu vertreiben oder auszurotten“ – trifft nicht zu: Israel ist keine Kolonie, die besetzten Gebiete sind keine Kolonien, die Palästinenser werden nicht vertrieben oder ausgerottet. Weder ist Israel ein Kolonialstaat noch ist der Zionismus eine Form des Kolonialismus.
Den Schlussstrich ziehend lässt es sich nicht vermeiden, den allzu persönlichen Charakter der Thesen Judts aufzudecken – er spricht vom monolithischen Westen, er erwähnt pauschalisierend „alle anderen“ und konkret die gesamte „nichtkommunistische Linke“ und meint immer und immer wieder nur sich selbst. Aus seinen Interviews zum Thema und zur eigenen Person kann man das genau entnehmen. Geboren 1948, ist er genauso reif wie der Staat, den er so vehement kritisiert. Als Jugendlicher beteiligte er sich an der zionistischen Bewegung und half bei der Immigration der britischen Juden nach Israel. Direkt nach dem Krieg 1967 ging er nach Israel und dolmetschte für die Armee. Er träumte von einem sozialistischen Israel und kehrte bald enttäuscht zurück. Man fühlt sich an einen hierzulande bekannten Schriftsteller erinnert, der aus eigenen Empfindungen eine Geschichtsvision und daraus im Umkehrschluss drohende „Moralkeulen“ entstehen ließ.
Judt wurde in seiner eigenen Entwicklung anscheinend maßgeblich durch den erwähnten Professor der komparativen Literaturforschung Edward Said beeinflusst, über den Judt 2004 einen großen Nachruf in tiefster Verehrung schrieb. Judt übernimmt die Ideen und die Argumentation Saids, setzt seine Ideologisierung der neuesten Geschichtsschreibung, Umdeutung des Diskurses in den Kulturkampf fort. Said geht es um die Beherrschung der Narrative, des Vokabulars. Sein berühmtester manifestere Satz lautet: „Jeder Europäer, der etwas über den Orient sagte, war ein Rassist, ein Imperialist und fast völlig ethnozentrisch“. Begriffe wie „die palästinensische Katastrophe von 1948“, „unseliges Suez-Abenteuer von 1956“, „katastrophale Invasion des Libanon“, Ausdrücke wie „Israel konnte immer noch tun und lassen, was es wollte“, „Instrumentalisierung des Holocausts“ – kommen aus der palästinensischen Propagandaküche, sind Produkte der Palästinenser-Lobby. Dass die reale Geschichte widersprüchlicher und auf keinen Fall so geradlinig gelaufen ist, wird hier ausgeblendet, nicht einmal als Nebensatz zugelassen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum mehrere Artikel von Judt seit Jahren übersetzt werden und bis dato kein einziger von Ephraim Karsh, ohne dessen Bücher das geschichtliche Wissen über die Umstände der Gründung des Staates Israel, über den Krieg 1948, über die palästinensische Befreiungsorganisation und Arafat, über die Geschichtsschreibung um Israel kaum vollgültig genannt werden kann.
Was bei Judt übrig bleibt, ist eine vulgäre pseudolinke Phraseologie aus den schönen alten 60er Jahren. Sein Versuch, die berechtigten Vorwürfe in dem Schüren antisemitischer Formeln dabei mit einer „antisemitischen Keule“ im Voraus abzuwehren, schlägt zurück, wie immer. Der Erfolg seiner letzten Texte bei den Antisemiten Rechtsaußen wie Linksaußen ist ein deutliches Zeichen dafür – der gültige Beweis leidvoller Wirksamkeit der Rhetorik einer Schlussstrich-Mentalität.

Im Eifer

Es ging mit dem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung los. Zwei Artikel von Tony Judt übersetzte die Zeitung - das war zwei zu viel. Monatelang ging es hin und her. Endlich, am 20.6.2006 kam ein Leserbrief heraus:
Ende März ist ein Essay von Stephen Walt und John Mearsheimer über die Israel-Lobby in den USA erschienen. Mitte April hat Tony Judt sich in die Diskussion mit dem Artikel „Lobby, keine Verschwörung“ eingemischt. In der „Süddeutschen“ vom 28.April bekam der Artikel einen anderen Namen – „Doppelter Schaden“. Warum hat die Zeitung den Titel geändert? Der Ausdruck erscheint im Text nicht. Die einzige Stelle, die dafür in Frage käme, lautet: „Daniel Levy (…) schrieb in "Haaretz", der Essay sollte als Weckruf verstanden werden, um uns den Schaden bewusst zu machen, den die Israel-Lobby für beide Nationen anrichtet.“
Levy hat anders geschrieben: Der Essay „sollte als Weckruf dienen, auf beiden Seiten des Ozeans“. Er ist Walt und Mearsheimer gegenüber wesentlich kritischer als Judt und spricht von ihnen als den „vereinfachenden Autoren“.
Nach seiner Einschätzung schade diese Lobby den Interessen Israels. Über den vermeintlichen Schaden für die USA und von einem „doppelten Schaden“ spricht er nicht. Judt hat den zweiten Teil des Satzes Levy zugeschrieben.
Ein weiteres Schadenszitat findet sich aber doch; Judt gibt wieder: „Die Israel-Lobby in den USA schadet Israels wahren Interessen.“ Tom Segev, den er hier zitiert, hat den Walt-Mearsheimer-Essay scharf kritisiert, nannte ihn „Protokolle aus Harvard und Chicago“ (eine Anspielung auf den antisemitischen Klassiker „Die Protokolle der Weisen von Zion“) und „sehr arrogant“ (Judt lässt das Wörtchen „sehr“ aus!) Segev betont: „Der Eindruck entsteht, dass Walt und Mearsheimer die USA-Unterstützung für Israel deswegen angreifen, weil ihnen Präsident Bush nicht gefällt. (…) Anscheinend wären sie nicht so böse, wenn die Israel-Lobby sich gegen Bush entscheiden würde.“ Und weiter: „Die Vorstellung vom Israel-Einfluss basiert auf dem uralten Mythos, dass Juden die Welt regieren. (…) Von diesem Standpunkt aus haben Walt und Mearsheimer der Israel-Lobby einen guten Dienst erwiesen“.
Segev kritisiert die „Siedlungspolitik“ Israels, das Fehlen des Friedensvertrags zwischen Israel und Syrien, seine Intention ist trotzdem eine absolut andere, als die, die Judt ihm zuweist. Er missbraucht Segev, indem er dessen Kritik zu einem Instrument in der Debatte macht.
Wenn man Zitate bei Judt durchgeht, kommt man zum Schluss, sie alle (!) sind selektiv, sie stammen alle aus einer Quelle (der israelischen Zeitung „Haaretz“) und spiegeln nur eine Meinung wieder, dazu noch die einer betont „israelkritischen“ Minderheit innerhalb Israels. Im gewissen Sinne geht die „Süddeutsche“ mit Judt selbst genauso um. Eine Passage wird ausgelassen, ausgerechnet die, wo Judt sich die Unterstützung aus einer Publikation in der deutschen Presse holt, in der ein Autor Walt und Mearsheimer dafür lobt, wofür Segev, Morris und viele andere Fachleute den Essay kritisiert haben: „Nur selten haben Wissenschaftler den Wunsch und den Mut, ein Tabu zu brechen.“ (Chr. Bertram in der „Zeit“) Die Tabubrecher bei der Arbeit, bei der Zitatselektion?
Walt und Mearsheimer gehen von falschen, absolut einseitigen Prämissen aus – auf der Suche nach einer Weltverschwörung. Judt bedient sich des selektiven Zitierens, um über das „umstrittene“ Land loszulegen. Im Eifer der israelkritischen Polemik macht der Titel bei der „Süddeutschen“ in der Tat einen „doppelten Schaden“ und wirft einen Schatten auf die Zeitung zurück. Man möchte dazu sagen: Bitte keine Tabubrüche, wo es keine gibt.

Dr. Grigori Pantijelew, Bremen