21. Dezember 2006

Im Eifer

Es ging mit dem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung los. Zwei Artikel von Tony Judt übersetzte die Zeitung - das war zwei zu viel. Monatelang ging es hin und her. Endlich, am 20.6.2006 kam ein Leserbrief heraus:
Ende März ist ein Essay von Stephen Walt und John Mearsheimer über die Israel-Lobby in den USA erschienen. Mitte April hat Tony Judt sich in die Diskussion mit dem Artikel „Lobby, keine Verschwörung“ eingemischt. In der „Süddeutschen“ vom 28.April bekam der Artikel einen anderen Namen – „Doppelter Schaden“. Warum hat die Zeitung den Titel geändert? Der Ausdruck erscheint im Text nicht. Die einzige Stelle, die dafür in Frage käme, lautet: „Daniel Levy (…) schrieb in "Haaretz", der Essay sollte als Weckruf verstanden werden, um uns den Schaden bewusst zu machen, den die Israel-Lobby für beide Nationen anrichtet.“
Levy hat anders geschrieben: Der Essay „sollte als Weckruf dienen, auf beiden Seiten des Ozeans“. Er ist Walt und Mearsheimer gegenüber wesentlich kritischer als Judt und spricht von ihnen als den „vereinfachenden Autoren“.
Nach seiner Einschätzung schade diese Lobby den Interessen Israels. Über den vermeintlichen Schaden für die USA und von einem „doppelten Schaden“ spricht er nicht. Judt hat den zweiten Teil des Satzes Levy zugeschrieben.
Ein weiteres Schadenszitat findet sich aber doch; Judt gibt wieder: „Die Israel-Lobby in den USA schadet Israels wahren Interessen.“ Tom Segev, den er hier zitiert, hat den Walt-Mearsheimer-Essay scharf kritisiert, nannte ihn „Protokolle aus Harvard und Chicago“ (eine Anspielung auf den antisemitischen Klassiker „Die Protokolle der Weisen von Zion“) und „sehr arrogant“ (Judt lässt das Wörtchen „sehr“ aus!) Segev betont: „Der Eindruck entsteht, dass Walt und Mearsheimer die USA-Unterstützung für Israel deswegen angreifen, weil ihnen Präsident Bush nicht gefällt. (…) Anscheinend wären sie nicht so böse, wenn die Israel-Lobby sich gegen Bush entscheiden würde.“ Und weiter: „Die Vorstellung vom Israel-Einfluss basiert auf dem uralten Mythos, dass Juden die Welt regieren. (…) Von diesem Standpunkt aus haben Walt und Mearsheimer der Israel-Lobby einen guten Dienst erwiesen“.
Segev kritisiert die „Siedlungspolitik“ Israels, das Fehlen des Friedensvertrags zwischen Israel und Syrien, seine Intention ist trotzdem eine absolut andere, als die, die Judt ihm zuweist. Er missbraucht Segev, indem er dessen Kritik zu einem Instrument in der Debatte macht.
Wenn man Zitate bei Judt durchgeht, kommt man zum Schluss, sie alle (!) sind selektiv, sie stammen alle aus einer Quelle (der israelischen Zeitung „Haaretz“) und spiegeln nur eine Meinung wieder, dazu noch die einer betont „israelkritischen“ Minderheit innerhalb Israels. Im gewissen Sinne geht die „Süddeutsche“ mit Judt selbst genauso um. Eine Passage wird ausgelassen, ausgerechnet die, wo Judt sich die Unterstützung aus einer Publikation in der deutschen Presse holt, in der ein Autor Walt und Mearsheimer dafür lobt, wofür Segev, Morris und viele andere Fachleute den Essay kritisiert haben: „Nur selten haben Wissenschaftler den Wunsch und den Mut, ein Tabu zu brechen.“ (Chr. Bertram in der „Zeit“) Die Tabubrecher bei der Arbeit, bei der Zitatselektion?
Walt und Mearsheimer gehen von falschen, absolut einseitigen Prämissen aus – auf der Suche nach einer Weltverschwörung. Judt bedient sich des selektiven Zitierens, um über das „umstrittene“ Land loszulegen. Im Eifer der israelkritischen Polemik macht der Titel bei der „Süddeutschen“ in der Tat einen „doppelten Schaden“ und wirft einen Schatten auf die Zeitung zurück. Man möchte dazu sagen: Bitte keine Tabubrüche, wo es keine gibt.

Dr. Grigori Pantijelew, Bremen

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