21. Dezember 2006

Judt zum zweiten

Den größeren Artikel wollte keine Zeitung drucken. Die Liste erspare ich dem Leser. Hier folgt die Fassung vom 25.5.2006:
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Staat Israel gehört seit seiner Gründung zu den heikelsten Themen in der deutschen Presse. Insofern verwundert die provozierende Klarheit der Historikers Tony Judt, mit welcher er neulich zweimal nacheinander in SZ seine Thesen vorstellen durfte.
Eine seiner Kernaussagen war die Behauptung (noch vor dem Essay von Walt/Mearsheimer formuliert, aber jetzt ausführlicher dargestellt), dass die Israel-Lobby den USA sowie Israel schade. Auch über den „anachronistischen“ Staat Israel hat er schon mehrmals sein Verdikt getan. Soll man das ignorieren? Sollten Israelis selbst damit fertig werden, wenn sie schon in ihren Zeitungen solche Texte drucken, - nach dem Motto, wir drucken es nur nach? Nein. Warum? Weil seine Artikel erstens als die eines Historikers eingeführt werden. Weil zweitens weder seine falsche Prämissen dem deutschsprachigen Leser offen gelegt noch die mehr als nur ernstzunehmende amerikanischsprachige Kritik bekannt gemacht wird.
An einem Schlüsselbeispiel möchte ich zeigen, wie vereinfachend und undifferenziert Judt argumentiert. Er schreibt: „Vor 1967 mag der Staat Israel winzig und umkämpft gewesen sein, aber in der Regel wurde er nicht gehasst – sicherlich nicht im Westen. Der offizielle Sowjetkommunismus war natürlich antizionistisch, aber gerade aus diesem Grund war Israel bei allen anderen normalerweise gut angesehen, einschließlich der nichtkommunistischen Linken.“
Seine Thesen sind hier: Israel sei winzig (1), umkämpft (2), vor 1967 in der Regel gut angesehen im Westen, sogar bei der nichtkommunistischen Linken (3), dafür aber die Zielscheibe des Sowjetkommunismus (4).
Eine auf Dokumenten basierende Untersuchung würde zu anderen Schlüssen führen. Judt verfügt nicht über die Befragungsergebnisse aus dem Zeitraum weltweit, um seine Thesen zu belegen. Im Gegenteil lässt sich nachweisen, dass Israel auch vor 1967 einseitig kritisch beäugt wurde: 1948-1949: Die UNO (Sicherheitsrat) verurteilt den Angriff der arabischen Länder auf Israel nicht (die UdSSR enthält sich bei der Abstimmung über die an beide Kriegsparteien gerichtete Beschwichtigungen). 1956: Die Uno verurteilt das Verhalten Israels im Konflikt Syrien-Israel (einstimmig), genauso im Konflikt Ägypten-Israel (1955). 1960: Die Uno betrachtet die Entführung von Eichmann als ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“(8 Stimmen dafür, 2 enthalten u.a. die UdSSR). 1961: Die Uno vertritt die Interessen Jordaniens gegen Israel (die UdSSR enthält sich auch hier). 1962: Die Uno verurteilt das Verhalten Israels im Konflikt Syrien-Israel (Enthaltung nur Frankreich). 1966: Israel wird für den Angriff auf Jordanien scharf verurteilt (Neuseeland enthält sich). 1967: Israel wird für die Landbesetzung während des Krieges verurteilt (einstimmig).
Das zeigt: Israel war auch vor 1967 nicht gut angesehen bei der UNO, die SU distanzierte sich offiziell von der Verurteilung der Politik Israels deutlicher als alle anderen Großmächte. (Erst später beginnt die SU die arabischen Terroristen zu unterstützen, die USA positionieren sich auf der Seite Israels, der Kalte Krieg erreicht den Nahen Osten.)
Völlig unklar bleibt, was Judt mit dem Begriff „umkämpft“ meint. Kriegerisch (angegriffen von mehreren arabischen Nachbarstaaten) oder völkerrechtsmäßig (fast alle arabischen Länder erkennen bis heute das Existenzrecht Israels nicht an)? Toleriert der sonst so moralisch auftretende Judt diese Fakten stillschweigend, genauso wie der Sicherheitsrat das mit seinen Resolutionen tat? Ob ein Staat „winzig“ sein mag oder nicht – was sagt das über den Historiker, der den Begriff in dem Kontext der Debatte verwendet? Ist der Begriff Hass im Bezug auf einen Staat eine „normale“ geschichtliche Kategorie? Was ist für Judt die nichtkommunistische Linke in der Zeit vor 1967, wie relevant ist diese Kategorie im Bezug auf die Einstellung zum Existenzrecht Israels? Warum legt er die Grenze der Änderungen auf 1967 und nicht auf das Attentat auf die israelische Olympiamannschaft im Jahre 1972 in München? All diese Fragen zeigen die Widersprüchlichkeit der These, die Judt aufstellt. Judt schreibt weiter: „Rückblickend erkennen wir, dass Israels Sieg im Juni 1967 und seine fortwährende Besetzung der eroberten Gebiete zu seiner eigenen Nakba wurden: eine moralische und politische Katastrophe.“ Wir erkennen das nicht, weder von alleine, noch durch Judts nicht vorhandene Argumente (man hört die Stimme Ephraim Kishons in seinen Satiren „Wie Israel sich die Sympathien der Welt verscherzte“, 1962, „Pardon wir haben gewonnen“, 1968). Er erwähnt dabei nicht, dass die Gebiete, die Israel im Krieg 1956 erobert hatte, 1957 zurückgegeben wurden und Israel dadurch keinen sicheren Frieden gewonnen hat. Allein dies zeigt die Einseitigkeit der Geschichtsschreibung bei Judt. Er sieht nur die eine Seite und urteilt, schreibt Bosheiten der einen Seite auf und verschweigt Bosheiten der anderen Seite. Das nennt man parteiisch. Er redet von der „Weltmeinung“ und von „politischen Karikaturen“. Was er dabei aufzählt, ist der Bestand der antiisraelischen Propaganda, von Antizionisten eingeleitet und nun zur „Weltmeinung“ gekrönt.
Judt vergleicht Israel mit „einem Besatzer und Kolonialisten“, meint dies aber (da er seine Vergleiche nicht untermauert) nicht real, sondern als Urteil aus der Position heraus, die bei ihm „moralische Glaubwürdigkeit“ heißt. Die reale Politik, die Konfrontation der Staaten, bei welcher Krieg als Mittel der „Umkämpfung“ verwendet wird, die Notwendigkeit, auf diese Herausforderung zu antworten – auch als „Demokratie und Anständigkeit“ – passt nicht zu seiner Vorstellung von der moralischen Glaubwürdigkeit. Für ihn verhält sich Israel „unnormal“, das wird aber als globales Urteil der Geschichte formuliert - nicht mehr, nicht weniger.
Emmanuele Ottolenghi wies jüngst auf diesen Zusammenhang hin: „Für Judt ist der moderne europäische Antisemitismus, insofern er existiert, das insgesamt vorhersehbare Resultat des schlechten Verhaltens der Juden (in dem Fall, Israelis). Und so wie die israelischen Juden selbst die Schuld dafür tragen, dass die aufgeklärte Welt sie verurteilt, so können sie ihr Leiden erleichtern, und mit ihnen übrigens auch alle anderen Juden auf der ganzen Welt, die zusammen mit ihnen den schwarzen Brief bekommen haben, - und zwar durch ausgleichende Akte der Selbstzerstörung und Reorganisation.“ (Dieses Fragment über Judt wurde in der deutschen Übersetzung des Artikels von Ottolenghi in der „Welt“ ausgelassen.)
Judt will auch diesmal nicht „mit der falschen Gesellschaft“ in Verbindung gebracht, nicht als „De-facto-Kollaborateur des israelischen Fehlverhaltens“ angesehen werden. Der jüdische Staat hat moralischen Ansprüchen eines linken Intellektuellen eher zu entsprechen als jeder andere. Seine Argumentationskette ist einfach: „Für viele Millionen Menschen ist Israel tatsächlich der Staat aller Juden.“ Das ist kein Fakt, sondern eine Behauptung, dazu noch eine falsche: Es gibt viele Juden, die nicht in Israel wohnen und sich nicht mit dem Land identifizieren, und es gibt viele Millionen Menschen, für die Israel der Staat der Israelis ist und nicht nur der Juden. Dann folgt die nächste These: die USA seien „das einzige Land der Welt, in dem die Behauptung, dass Antizionismus gleich Antisemitismus sei, bis heute nicht nur die Meinung vieler Juden ist, sondern auch in den öffentlichen Erklärungen von Politikern und Massenmedien ihren Widerhall findet.“ In dieser Behauptung über eine „Behauptung“ (in der Tat eine Wahrheit) sind auch gleich mehrere problematische Umdeutungen verknüpft: Antizionismus ist heute nach wie vor dem Antisemitismus gleichzusetzen, auch wenn Judt das nicht anerkennt. Wenn dem Staat Israel kein Existenzrecht zugebilligt wird, dann sind seine Bürger existenziell und vital betroffen und nicht nur seine Grenzen. Die USA stehen in dieser Hinsicht nicht alleine da, und diese Sicht der Dinge teilt da die Mehrheit der Bevölkerung, nicht nur die Massenmedien und Politiker. Und wenn Judt die Angst hat, mit dem „kleinen“ Land in Verbindung gebracht zu werden, das dazu noch „kaum relevant“ ist (im englischen Original ist weiter von „strategischer Belastung“ die Rede), dann kann es nicht verwundern, dass er bereit ist, diesen Staat, der dazu noch nicht sein eigener ist, aufzugeben (nach seinen Worten, „etwas Abstand von Israel zu nehmen“). In der deutschen Literatur hat Theodor Lessing dafür den Begriff „des jüdischen Selbsthasses“ eingeführt. Und wenn Judt alle Juden für die tatsächlichen Versäumnisse oder gar Verbrechen einiger Israelis (seien es Soldaten, Siedler oder gar Politiker) mitverantwortlich machen will, dann sitzt er wieder in der Falle antisemitischer Verallgemeinerungen.
Sein Vorschlag eines binationalen Staates Israel ist eine linke Utopie, die von einigen Zionisten (Martin Buber war unter ihnen der größte Denker und hat seine Vision anders formuliert als geistige Vorbilder Judts - Edward Said und Noam Chomsky) in den 30-40er Jahren formuliert und von der UNO bei der Gründung des Staates Israel abgelehnt wurde. Dieser Vorschlag hat sich als nicht verwirklichbar erwiesen, denn er setzt die beiderseitige Bereitschaft einer friedlichen Koexistenz voraus. Das Ansinnen scheiterte an den Positionen der arabischen, insbesondere islamistischen geistigen Führer, deren grundsätzliche Ablehnung 1948 formuliert, noch einmal 1967 bestätigt und bis heute nicht zurückgenommen wurde. Sie lautet: „Arabische Staaten bleiben ihren Hauptprinzipien treu: kein Frieden mit Israel, keine Anerkennung Israels, keine Verhandlungen mit Israel und Beharren auf den Rechten des palästinensischen Volkes auf ihren eigenen Staat.“ Die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ ist 1964 entstanden, als keine Landflächen von Israel besetzt waren, der Titel bezieht sich auf das gesamte Palästina in seinen Grenzen vor der Gründung des Staates Israel. Inzwischen halten sich nicht mehr alle arabischen Staaten bei der Khartumer Deklaration, die Arafats- und Abbas-Manifeste wurden (seit 1996) mäßiger. Die Hamas-Regierung hält sich aber weiterhin an diese drei „Nein“, das ist kein Zufall, sondern Folge langjähriger Propaganda. Aber auch wenn Judts These unabhängig von dem konkreten nahöstlichen Bezug betrachtet wird, bleibt sie nicht haltbar. Judt will das nicht mal diskutieren und macht sich keine Gedanken über die Prototypen, geschichtliche Parallelen (z.B. Pakistan/Indien). Sein Vorschlag ist eine moralisch bedingte Utopie. Zu Ende gedacht ist dieser Vorschlag ein Todesurteil, wie Leon Wieseltier bei der Erwiderung auf einen anderen Artikel Judts konstatierte: „Ein binationaler Staat ist keine Alternative für Israel. Es ist die Alternative zu Israel.“ Wirtschaftliche und Handelsbeziehungen Israels zu anderen Ländern wachsen, Israel nimmt zunehmend aktivere Positionen in der humanitären Hilfe weltweit ein – das sind Beweise von vielen, dass Israel keinesfalls so isoliert und unreif ist, wie Judt es sieht.
Sein Beispiel einer israelkritischen Reaktion von Studenten, das als Beleg für den Zustand „fünf vor zwölf“ dienen soll, ist die Krönung seiner Argumentation. Der Student Judt hat in den Jahren vor 1967 die Kibbuz-Begeisterung um sich herum für die weltweite Akzeptanz Israels gehalten. Der Hochschullehrer Judt sieht im Jahre 2006 das Versagen Israels weltweit aufgrund der unreifen Polemik von einigen Studenten einer Gruppe einer Universität als bewiesen. Die zunehmende Politisierung des Unterrichtes an den einzelnen amerikanischen Universitäten ist kein unbekanntes Thema, seit neuem sind auch Beweise für die lobbyistische Tätigkeit der arabischen Geldgeber in dieser Richtung vorgelegt, insbesondere ging es dabei um den ehemaligen Fachbereich von Edward Said. Weil Judt seinen Studenten nicht erklären will oder kann, worin der Unterschied zwischen Francos Spanien und Scharons/Olmerts Israel besteht, soll also Israel seine Politik grundsätzlich ändern und sich am besten auflösen. Soll dies die Logik eines Historikers sein?
Sein Vergleich der historischen Perspektive Rom-Israel vor 2000 Jahren versus USA-Israel von heute ist genauso absurd, unbelegbar, irreführend. Sein Aufruf, die Hamas „durch ernsthafte Angebote „herauszufordern“, ist blinder Utopismus: Die Hamas will Israel nicht anerkennen, sie hat es immer gesagt und jeden Tag dieses Jahres wiederholt.
Zuletzt noch zu dem Vorwurf des Kolonialismus. Judt gibt die Kolonisierung für den Kolonialismus aus. Israelische Siedler bauen Siedlungen auf den besetzten Gebieten, zum Teil mit Unterstützung der eigenen Regierung, was stets und zu Recht kritisiert wurde. Man könnte das als Landraub, Expansion bezeichnen und den politischen Druck auf die israelische Regierung ausüben. Es ist aber auch dann immer noch kein Kolonialismus. Angesichts des Gazaabzugs und der weiteren Abzugspläne kann man auch deutlich sehen, dass sowohl interne Kritik als auch die von außen Früchte bringen. Judts Satz - Kolonien seien „immer zum Untergang verurteilt, außer man ist entschlossen, die eingeborene Bevölkerung zu vertreiben oder auszurotten“ – trifft nicht zu: Israel ist keine Kolonie, die besetzten Gebiete sind keine Kolonien, die Palästinenser werden nicht vertrieben oder ausgerottet. Weder ist Israel ein Kolonialstaat noch ist der Zionismus eine Form des Kolonialismus.
Den Schlussstrich ziehend lässt es sich nicht vermeiden, den allzu persönlichen Charakter der Thesen Judts aufzudecken – er spricht vom monolithischen Westen, er erwähnt pauschalisierend „alle anderen“ und konkret die gesamte „nichtkommunistische Linke“ und meint immer und immer wieder nur sich selbst. Aus seinen Interviews zum Thema und zur eigenen Person kann man das genau entnehmen. Geboren 1948, ist er genauso reif wie der Staat, den er so vehement kritisiert. Als Jugendlicher beteiligte er sich an der zionistischen Bewegung und half bei der Immigration der britischen Juden nach Israel. Direkt nach dem Krieg 1967 ging er nach Israel und dolmetschte für die Armee. Er träumte von einem sozialistischen Israel und kehrte bald enttäuscht zurück. Man fühlt sich an einen hierzulande bekannten Schriftsteller erinnert, der aus eigenen Empfindungen eine Geschichtsvision und daraus im Umkehrschluss drohende „Moralkeulen“ entstehen ließ.
Judt wurde in seiner eigenen Entwicklung anscheinend maßgeblich durch den erwähnten Professor der komparativen Literaturforschung Edward Said beeinflusst, über den Judt 2004 einen großen Nachruf in tiefster Verehrung schrieb. Judt übernimmt die Ideen und die Argumentation Saids, setzt seine Ideologisierung der neuesten Geschichtsschreibung, Umdeutung des Diskurses in den Kulturkampf fort. Said geht es um die Beherrschung der Narrative, des Vokabulars. Sein berühmtester manifestere Satz lautet: „Jeder Europäer, der etwas über den Orient sagte, war ein Rassist, ein Imperialist und fast völlig ethnozentrisch“. Begriffe wie „die palästinensische Katastrophe von 1948“, „unseliges Suez-Abenteuer von 1956“, „katastrophale Invasion des Libanon“, Ausdrücke wie „Israel konnte immer noch tun und lassen, was es wollte“, „Instrumentalisierung des Holocausts“ – kommen aus der palästinensischen Propagandaküche, sind Produkte der Palästinenser-Lobby. Dass die reale Geschichte widersprüchlicher und auf keinen Fall so geradlinig gelaufen ist, wird hier ausgeblendet, nicht einmal als Nebensatz zugelassen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum mehrere Artikel von Judt seit Jahren übersetzt werden und bis dato kein einziger von Ephraim Karsh, ohne dessen Bücher das geschichtliche Wissen über die Umstände der Gründung des Staates Israel, über den Krieg 1948, über die palästinensische Befreiungsorganisation und Arafat, über die Geschichtsschreibung um Israel kaum vollgültig genannt werden kann.
Was bei Judt übrig bleibt, ist eine vulgäre pseudolinke Phraseologie aus den schönen alten 60er Jahren. Sein Versuch, die berechtigten Vorwürfe in dem Schüren antisemitischer Formeln dabei mit einer „antisemitischen Keule“ im Voraus abzuwehren, schlägt zurück, wie immer. Der Erfolg seiner letzten Texte bei den Antisemiten Rechtsaußen wie Linksaußen ist ein deutliches Zeichen dafür – der gültige Beweis leidvoller Wirksamkeit der Rhetorik einer Schlussstrich-Mentalität.

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