21. Dezember 2006

Vom schlechten Gewissen

Diese Kolumne wurde für die "Jüdische Zeitung" geschrieben, erschienen im Oktober Heft 2006.
Vor Jahren gehörte ich zu einer Gemeinschaft, die einmal auf die witzige Idee kam, für jeden Wochentag und jede Tagesstunde einem der Mitglieder für alles Schuld zuzuweisen, was einem so passieren kann. Einige wollten keinesfalls auf dieser Liste stehen, ich bestand darauf, pro Tag mindestens eine Stunde schuldig zu sein. Welcher Teufel hat mich dabei geritten? Warum war es mir wichtig, „Jesus zu spielen“, um es salopp auszudrücken?
Ich glaube heute, dies ist eine Frage nicht nur für meinen Therapeuten, denn sie trifft offensichtlich auf viele zu und nicht nur bei solchen Lappalien. Ein Staat wird existenziell von Anfang an gefährdet, wehrt sich, lernt mühsam mit der ständigen Bedrohung umzugehen, versucht kriegerische oder friedliche Signale auszusenden, eigene Fehler zu verarbeiten. Wie geht die Außenwelt damit um? Die einen unterstützen ihn – mit wirtschaftlicher oder auch nur ideeller Hilfe, durch Waffenlieferungen oder Baumpflanzungen. Die anderen bekriegen ihn – und das nicht nur mit Verdammungsworten, sondern mit allen Kampfmitteln. Es gibt eine dritte Partei. Deren Vertreter fühlen sich schuldig, egal was dieser Staat auch nur tut, egal, ob sie dafür verantwortlich gemacht werden oder nicht. Geht es ihm gut, könne es Neid bei seinen Gegnern auslösen. Geht es ihm schlecht, habe er versagt. Zeigt er sich milde, sei er zu schwach. Verteidigt er sich, benehme er sich unmoralisch.
Aus diesen und anderen Formeln spricht irgendein hochmoralischer Prediger, der immer ein schlechtes Gewissen hat. Anstatt dessen Gründe bei sich zu suchen, spielt er „Jesus“ – übernimmt Verantwortung für alles, was auf der Welt schief geht oder auch nur schief gehen kann. Födor Dostojewski und mit ihm Gustav Mahler konnten keine Ruhe finden, denn sie wussten: Irgendwo weint ein Kind. Sie haben Menschen gelehrt, mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Die heutigen Moralisten fühlen sich auch schuldig am Missglück auf der Erde, wollen aber den anderen ein schlechtes Gewissen einreden. Sie wenden sich ausschließlich an die anderen, an die, die angegriffen werden und sich verteidigen.
Neulich fand ich ein bemerkenswertes Szenario, wie man an einen Moralisten, der Selbstverteidigung für eine unangemessene Antwort hält, mit simplen Methoden herankommt:

1. Frag ihn, ob er eine militärische Reaktion akzeptiert.
2. Wenn er nein sagt, frag ihn, warum.
3. Höchstwahrscheinlich wird er in etwa sagen, „das verursacht viel Schaden für die unschuldigen Menschen und führt zu mehr Eskalation und Gewalt…“
4. Inmitten seiner Rede schlag ihm ins Gesicht.
5. Wenn er versucht zurückzuschlagen, erinnere ihn, dass dies zu mehr Eskalation und Gewalt führen wird.
6. Wenn er zustimmt, schlag ihn noch einmal.
7. Wiederhol Schritte 5-6, bis er die Moral verstanden hat.

Gibt es eine jüdische Moral? Sollte man zwischen dem jüdischen und nichtjüdischen Blick auf die Welt unterscheiden? Erinnern wir uns an eine alte Geschichte über zwei chassidische Brüder, Elimelech und Sussja. Sie waren auf einer langen Reise und mussten einmal auf einem Gasthof in einem kleinen Städtle übernachten. Sie hatten kein Geld in der Tasche und mussten nun zusehen, wie eine Hochzeit gefeiert wurde. Betrunkene Gäste hatten nichts Besseres zu tun, als zwei Unbekannte zu bespotten und dann auch zu beschimpfen. Sie machten sich ausgerechnet an Sussja heran und zwangen ihn zu tanzen und springen und verprügelten ihn anschließend, bevor sie ihn in Ruhe ließen. Eine Stunde später dennoch wollten sie ihn sich schon wieder vornehmen, so dass es auch diesmal dauerte, bevor er in die Ecke zu seinem Bruder zurückkehren durfte. “Warum musst du immer alles abkriegen, immer nur du? - flüsterte Elimelech zu ihm. - Das ist Gottes Wille, - stöhnte Sussja schwach.” “Weißt du, was wir machen könnten? Lass uns Plätze tauschen. Sie sind so volltrunken, dass sie es nicht merken werden. So verprügeln sie beim nächsten Mal mich, und du kannst dich ein wenig erholen.” Elimelech hat sich getäuscht. Als die Säufer wieder zu ihnen kamen, sagten sie zueinander: “Schaut mal her, die sind doch zu zweit. Und wir ehren nur einen von denen. Das ist ungerecht. Diesmal soll sein Freundchen etwas abbekommen…” Später sagte Sussja zu seinem Bruder: “Hast du verstanden? Von uns hängt nichts ab: Wir sind machtlos. Es steht alles aufgeschrieben.“
Das war einst die jüdische Moral. Das davor zitierte Dramolett, dessen moralische Quintessenz ganz anders schmeckt, stammt aus einem israelischen Weblog. Ich würde behaupten, da habe ein Volk Neues gelernt. Vielleicht kommt nach Jahrtausenden des schlechten Gewissens und der Bereitschaft, die gesamte Schuld der Welt auf sich zu nehmen, einmal eine andere Predigt als nur Stoa. „Das Wesen des Judentums“ muss deswegen nicht neu geschrieben werden. Lesen wir nicht nur ein gutes Buch, sondern lernen wir auch aus der Geschichte. Und lassen wir deren positive Lehre nicht nur für Israelis gelten.

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