14. Dezember 2007

Russische Juden in Deutschland

Die Jüdische Allgemeine Zeitung hat meine Meinung zum Thema "Müssen die offiziellen Vertreter jüdischer Gemeinden deutsch sprechen?" erfragt. Ich habe darauf positiv geantwortet. Gestern erschien dieser Text als meine Antwort auf die Frage: "Müssen Gemeindefunktionäre zwingend Deutsch sprechen?"

Selbstverständlich soll in den jüdischen Gemeinden hierzulande Deutsch gepflegt werden. Oder hätten wir in den vergangenen Jahren den deutschsprachigen Mitgliedern Russischkurse anbieten sollen?

Die russische Sprache wird vor allem von Senioren der Gemeinde weitergetragen. Die mittlere Generation kommt im Arbeitsleben ohne Deutsch nicht aus, Kinder und Jugendliche wuchsen meist schon in Deutschland auf. Sie sind heute kaum in der Lage, Russisch zu lesen und zu schreiben, und wenn sie ihr ungelenkes Russisch sprechen, dann im unsicheren Zwiespalt zwischen Familie und Außenwelt.

Auch wenn es unter älteren Menschen solche gibt, die die Sprachschwelle erfolgreich überwinden, so bleiben sie doch eher in der Minderheit. Die meisten konsumieren fast ausschließlich russisches Fernsehen sowie russische Zeitungen, sie kommunizieren in einer eigenen, zunehmend engeren Welt. Sie beklagen sich oft über den fehlenden Respekt seitens der Jugendlichen und definieren sich weiterhin über ihre Vergangenheit. Denken diese Nostalgiker an die Zukunft der Gemeinde? Ist es für sie in Ordnung, wenn sich eine jüdische Gemeinde in einen postsowjetischen Seniorenklub verwandelt? Welche Kultur leben sie den Jugendlichen vor?

Außerdem ist eine jüdische Gemeinde Teil des jeweiligen Stadtlebens und kann sich nur in ständiger Kontaktpflege mit allen Institutionen der Stadt behaupten. Alle offiziellen Repräsentanten müssen Interessen der Gemeinde wahren. Im Duktus Wladimir Kaminers kommen sie nicht sehr weit.

Wo liegt der wünschenswerte - und praktikable - Mittelweg? Es ist notwendig, alle Mitglieder in die Gemeinde zu holen und willkommen zu heißen. Mit verschiedenen Kulturprogrammen, Klubs und Vereinigungen bekommen russischsprachige Senioren die Chance, sich zusammenzutun, um unter anderem aus der Einsamkeit ihrer Sprachlosigkeit herauszufinden. Wenn sie sich aber nur einigeln, anstatt in der Stadt Kontakte zu knüpfen, dann war das alles umsonst. Darüber hinaus kann es sogar passieren, dass einige besonders eifrige Veteranen sich zur Mehrheit erklären und die Umstellung der Amtsführung und des Papierverkehrs auf Russisch verlangen, weil sie sich selbst für den Nabel der Gemeinde halten.

Wie lässt sich das vermeiden? Etwa so: zweisprachig nach innen, deutschsprachig nach außen. Innerhalb der Gemeinde sollte man alle Veranstaltungen, alle Verlautbarungen zweisprachig führen und dabei penibel auf das Gleichgewicht achten, denn sonst fühlen sich deutschsprachige Mitglieder sehr schnell vergrault. Im Kontakt mit anderen Gemeinschaften und Institutionen der Stadt muss man offen und diskussionsfähig sein - und lernen, anstatt sich dauernd zu schämen. Unter anderem von den eigenen Kindern und Enkelkindern, wie man sich erfolgreich integriert. Die jüngsten von ihnen schaffen es schnell und überwiegend vorbildlich. Ob sie auch als Erwachsene zur jüdischen Gemeinde gehören werden?

Um alle drei Generationen nicht aus den Augen zu verlieren, haben die Gemeindevorstände die folgenden unabdingbaren Aufgaben:
1.) Behutsames Anspornen der Älteren, damit sie sich nicht in sich verschließen.
2.) Aktive Verpflichtung der mittleren Generation, die ihren Kindern die Integration nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in der jüdischen Gemeinde vorleben müssen.
3.) Freudvolles Einbeziehen der Jugendlichen und Kinder in den jüdischen Unterricht und die Weitergabe der jüdischen Tradition, allerdings nicht durch alberne Shows, die vom Fernsehen abgeguckt sind, oder Paraden, kopiert aus militarisierten Ferienlagern, sondern durch Lesen, Diskutieren, Lernen - damit sie "a kluger Kopf" werden. Hinaus aus dem sprachlichen Ghetto, hinein ins Leben!

7. Dezember 2007

Der Reichsorchesterfilm

Ende Oktober fand in der Galerie Katrin Rabus in Bremen eine Tagung statt. Das Thema war "Musik und Film" oder so ähnlich. Da in der Presse eine Premiere eines anspruchsvollen Films über die Geschichte der Berliner Philharmoniker angekündigt wurde, ging ich hin. Nach der Filmvorführung wurde diskutiert, mit der Beteiligung des Autors, der Enrique Sánchez Lansch heißt. Der Film "Das Reichsorchester" wurde etwas zu viel für meinen Geschmack gelobt. Der Film plus diese Lobhudelei haben mich zu dem folgenden Text veranlasst, den die "Jüdische Zeitung" freundlicherweise im Dezember-Heft 2007 gedruckt hat:

Vergangenheitsbewältigung mit Gefühl

Man stelle sich vor: Eine Institution wird auf einmal mit ihrer Naziverstrickung konfrontiert. Da es sich hier um mehr als nur um einzelne Personen handelt, stellt sich die Frage: Wie geht man vor?

Die Berliner Philharmoniker sind in der Gegenwart angekommen, anscheinend durch ein Buch des kanadischen Autors Misha Aster, in dem er die bittere Realität des gesamten Mitläufer-Orchesters beschreibt. Wie kann man diesen nie getilgten Konformismus in der eigenen Geschichte verarbeiten?

Richtig: Man holt einen hauseigenen Regisseur und bestellt einen Film, der die Fakten nach dem Prinzip einerseits-andererseits versöhnlich arrangiert. Dann ist man eben einerseits mit der eigenen schlimmen Vergangenheit konfrontiert (in einer delegierten Form zwar, aber wer wird das schon laut sagen!), andererseits reift beim geneigten Zuschauer eine entlastende Erkenntnis heran: Das war wohl gar nicht so schlimm, denn es war ja nur menschlich, allzumenschlich, oder wie man so schön journalistisch schreiben kann – teils verständlich. Das Thema wird auf diese Weise an das Publikum delegiert.

Wie macht man das? Ganz einfach, nämlich emotional. Ins Zentrum werden zwei ehemalige Musiker des Orchesters geholt, beide wunderbar nett, warm, herzlich. Der eine sagt, das Orchester sei kein Nazikörper gewesen, der andere sagt, es sei ihm schon peinlich gewesen, mit dem Geigenkasten durch die zerbombte Stadt zu laufen, während andere Männer eingezogen waren. Der eine sagt in etwa, „uns hat die Liebe zur Musik geeinigt“, der andere, „man hat uns ausgenutzt“. Der eine erinnert sich, dass man mit den wenigen, aber bitte wirklich wenigen Nazis im Orchester kaum gesprochen habe, der andere erinnert sich, wie Juden aus dem Orchester entfernt wurden. So geht das weiter, und durch die schonungsvolle Montage erfährt der Blick, auf wessen Seite der Autor steht, insbesondere als am Ende des Streifens der groß und langsam gezeigte zweite Musiker keine Worte mehr findet, während er durch die Ersatzräume für die ruinierte Philharmonie geführt wird.

Unterm Strich: Bilder und Worte der zwei Zeitzeugen sind kostbar, sie sind ein Dokument für sich. Bestünde der Film nur daraus, sähe ich mich im weiteren nicht gezwungen, kritisch zu werden.

Es gibt im Film viel Musik. Fast alles längst bekannt und jedem zugänglich. Zwei seit langem allzubekannte Dokuaufnahmen aus dem Jahr 1942 werden klein gehackt und mehr als nur mehrfach verwendet, als wären sie die zahlreichen verschiedenen Quellen. Einmal spielt Furtwängler mit dem Orchester den Schluss der Neunten Beethovens am Vorabend von Hitlers Geburtstags vor den erstarrten Nazis. Ein andermal bringen dieselben das Meistersinger-Vorspiel Wagners an die gerührte Volksgemeinschaft. Erstens werden diese Schnitte ausschließlich als Bilder genommen und vervielfältigt. Die Wirkung der Musik bleibt unausgesprochen. Warum ist das Tempo im ersten Fall einmalig rasend, so dass sich die Utopie der Menschenverbrüderung in die Antiutopie umkehrt? Warum wirkt die zweite Interpretation so stinklangweilig? Der Film weiß das nicht, merkt das nicht, weiß mit dem Widerspruch zwischen Bild und Musik nicht umzugehen.

Zweitens übernimmt der Autor diese Bilder, ohne sich Gedanken zu machen, dass sie ein Produkt der Nazipropaganda sind. Im ersten Fall ein begeisterter Goebbels gegen einen verrückt um sich herum schlagenden Furtwängler – der Obernazi als Oberkunstkenner. Im zweiten Fall unzählige ausdrucksstarke Gesichter aus dem Volke – die Kunst hilft die schwere Zeit durchzustehen („nie kapitulieren“ usw.). Furtwängler bleibt auch hier mit seinem unverständlichen Wuchten ein Störfaktor.

Drittens werden, wie gesagt, kleinste Fragmente dieser beiden Aufnahmen immer wieder kommentarlos zitiert. Sie begleiten die Erzählung des Films in seiner Chronologie, als wären sie authentisch in ihrer Zeitfolge. Sie suggerieren eine Realitätsnähe, ohne diese zu besitzen. Sie dienen als Bild für die Jahre 1943, 1944, sogar 1945, obwohl sie nur für das Jahr 1942 stehen dürften.

Am Rande sei noch bemerkt, dass der eingeführte Ausschnitt mit Erich Kleiber kaum für die geschilderte Zeit stehen kann oder wenigstens eines Kommentars bedürfte, und zwar warum dieser Dirigent Nazideutschland verlassen musste. Unverständlich bleibt auch das Fehlen des „Herrn K.“, wie Furtwängler Karajan titulierte. Dieser wird im Film erst für die Nachkriegszeit erwähnt und auf diese Weise behutsam aus der Schusslinie genommen.

Am schlimmsten empfinde ich aber den Umgang mit der Bilderästhetik der Nazizeit. Der Autor übernimmt kommentarlos Fragmente aus den inszenierten Fresken Riefenstahls sowie aus zahlreichen Propagandafilmchen. Nur die Darstellung Hitlers wird an einer Stelle verfremdet, alles andere - eins zu eins wiedergegeben. Nur einmal setzt der Autor Bilder der Ruinen und Explosionen zu den herzergreifend pathetischen Gesichtern der Furtwängler-Zuhörer dazu. Dieser lockere Umgang mit dem Material ist unsystematisch für sich – weder ein strenger Dokumentarfilm noch ein betonter Autorenfilm. So entsteht eine Manipulation, die sich hinter fremdem Material versteckt oder es für sich ausnutzt, nach Belieben: einmal so, einmal andersherum.

Im Grunde sehe ich darin eine merkwürdige Tradition, die von Riefenstahl über Guido Knopp zu diesem Film führt – es geht mir hier um die Methode, eine Realität zu suggerieren, ohne dass der Zuschauer sicher sein kann, ob er die Wahrheit erfährt: Emotionale Bilderfolge mit der bewegenden Musik im Hintergrund; Zeitzeugen ohne Zahl; die Montage nach ästhetischem Prinzip, wo die Fakten weniger wichtig sind. Wenn dem aber so ist, dann soll man sich fragen, was diese Bilder sagen.

Beispielhaft finde ich in diesem Sinne eine Auslassung. Am Ende der ersten erwähnten Dokuaufnahme schüttelt Goebbels die Hand Furtwänglers. Acht Sekunden später verlegt dieser sein Taschentuch in die rechte Hand. Im Film „Taking sides“ schneidet István Szabó die Sekunden dazwischen heraus und macht daraus eine winzig kleine, wenn auch absolut unrealistische Protestgeste. Enrique Sánchez Lansch lässt die Szene komplett aus, nutzt sie nicht. Mit einem knappen Satz erwähnt der Film, dass Furtwängler das Orchester seit Februar 1945 nicht mehr dirigiert und in Österreich ist, später in der Schweiz. Weder die Hintergründe dieser Flucht noch das große Warum werden beleuchtet, nicht einmal angesprochen. Ein Beispiel der anderen Art: Orchestermusiker haben die Ruinen Rotterdams sehen können und seien darüber erschüttert gewesen – das wird hineinerzählt, das Menschliche.

Das große Problem dahinter: Wie erzählt man die wahre tragische Geschichte, ohne dass es weh tut? Die große Frage hätte aber anders gestellt werden müssen – soll man von dieser Prämisse ausgehen?

Die Reaktion in der Presse: Die meisten Zeitungen sehen ihre Aufgabe in der Werbung für den Film und loben dementsprechend endlos. Der „Tagesspiegel“: „teils atemberaubende Filmdokumente“, „präzise und besonnen“. Mein Resümee dagegen: keine neuen Filmdokumente, unpräzise und viel zu besonnen. Die „Welt“: „Den einzigen Satz der Reue sagt der großartige Hellmut Stern, eines der wenigen jüdischen Mitglieder nach dem Krieg: "Ich hab' nie gefragt."“ Ich sehe darin keine Reue, sondern die Feststellung: Es war unmöglich, danach zu fragen. Oder müssen es immer wieder die Juden sein, die Fragen stellen? Und weiter: „Dieser Film, erschütternd kleinlaut und konkret, sagt über Vergangenheitsbewältigung in Deutschland mehr aus als Geschichtsstunden.“ Im gewissen Sinne, ja - nur anders, als die Zeitung meint. Wenn „von damals vor allem Gefühle übrig geblieben sind. Nämlich unsere eigenen.“ – Dann stimmt etwas mit dieser Bewältigung nicht, dann wurde sie viel zu viel solchen Meistern der Gefühle überlassen wie Martin Walser.

Mehr Fakten, Klarheit und Position wären besser. Ehrlicher. Auch wenn es dem einen oder dem anderen, möglicherweise sogar sehr vielen wehtun würde. Ohne Schmerz kann man nämlich nichts bewältigen. Das gibt es nicht.