25. Januar 2008

Tony Judt auf den Spuren von Hannah Arendt

Die vor zwei Monaten angekündigte Besprechung zu den Folgen des neulich veröffentlichten Offenen Briefes muss ich irgendwie strukturieren. Es sind nämlich inzwischen mehrere Texte entstanden, sowohl pro als auch contra. Sie ersetzen in ihrer Fülle die nicht existente öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Insgesamt haben die Geheimhalter der Jury verloren - sie konnten die Preisverleihung nicht als Sieg in ihrem unermüdlichen Kampf für den demokratischen Dialog verkaufen und verhüllten sich im ignoranten Schweigen. Egal wie sie sich anstellen, sehen sie sich in einem Eiertanz, weil sie auf keinen Fall die wahre Begründung offenlegen wollen (Judt bekommt seinen dritten deutschsprachigen Preis im Jahr 2007 für seine antiisraelische Position!), weil Judt und seine Verteidiger in der von uns losgelösten Diskussion ihn als "Israelkritiker" präsentieren und loben, weil sein Europa-Buch in diesem Kontext nur als Aufhänger erscheint.

Anschließend folgen besagte Texte selbst - meist in Auszügen.

Aber zuerst soll eine kurze Auswertung der Stimmen geschehen. Die ausgewogene Darstellung der Positionen gelingt in vier gedruckten Artikeln (3,6,7,14) und einem Blogartikel (5). Die angeblich neutrale Juriposition wird entlarvt und in den Kontext der medialen Rolle Judts gestellt. Die meisten Autoren gehen ausführlich auf die Einstellung Judts gegenüber Israel ein, der Blogtext außerdem auf die Einschätzung der europäischen Geschichte im gepriesenen Buch Judts. Keine dieser Stimmen unterstützt die positive und hervorhebende Darstellung in dem Lobtext der Jury, sie alle widersprechen ihm und solidarisieren sich mit dem Protestbrief.

Wie aus unserem Leserbrief (12) deutlich wird, haben weder die Jury noch die Stiftung inhaltlich und direkt auf den Protestbrief geantwortet. Alleine Bürgermeisterin Frau Linnert ging darauf in ihrer Rede (13) ein. In dem dpa-Text (8) wird der Protestbrief sogar mit keinem Wort erwähnt - so wird ein Versuch unternommen, die Diskussion zu verhindern und die vorhandene Kritik zu verschweigen. Da der dpa-Text direkt von der Stiftung kommt, klingt die Empörung von Frau Grunenberg (14) und Herrn Rüdel (2) besonders bizarr, insbesondere in dem Moment, als sie sich zu Statthaltern der Diskussionskultur einer Hannah Arendt erklären. Aber auch in ihren Stellungnahmen zu dem Protestbrief zeigen sie sich uninformiert und nichtssagend. So sieht Peter Rüdel in Judt "einen Kritiker der aktuellen Politik Israels. Ein Mann, der freiwillig in der israelischen Armee gedient habe, stelle gewiss nicht Staat Israel in Frage." Das bedeutet, P.Rüdel kennt sich mit der Position Judts nicht aus und argumentiert dazu noch nicht einmal mit dessen Texten, sondern mit dessen Biographie, und zwar mit dem Fakt, dass Judt für eine kurze Zeit für die israelische Armee nach dem 1967-Krieg dolmetschte - mehr dazu in dem anderen Artikel in diesem Blog; Ingo Way ist über den Passus Rüdels auch empört (siehe unten bei 6). Genauso ungeschickt reagiert Rüdel auf die Feststellung, dass den jüdischen Kritikern Judts keine Möglichkeit geboten wird mitzudiskutieren: "Der Preis sei [...] auch in den vergangenen Jahren an einem Freitag verliehen worden". Sicher, das ist kein Problem für Tony Judt sowie auch für die gesamte Heinrich-Böll-Stiftung. Wenn man aber eine Diskussion mit einem "guten Juden" auf die Schabbatzeit ansetzt, muss ein Protest kommen, und dann ist die Antwort Rüdels kontraproduktiv - eine Diskussion wird von ihm auf diese Weise unterdrückt, was im Radiobeitrag von W.Stenke (15) ignoriert wird.

Genauso scheinheilig sind die Verteidigungsworte von Frau Grunenberg (14), die mit keinem Wort auf die Kritik eingeht, sie dafür aber als "unsachlich" und "diffamierend" bestempelt. Vollkommen ignorant ist sie gegen die Kritik an ihre eigene Adresse und will den Protest als einen persönlich ausgerichteten Kampf gegen Judt sehen. Indem sie dies tut und sich dazu auch noch hinter dem Namen von Hannah Arendt versteckt, macht sie genau das Gegenteil von dem, was sie ansagt, sie nämlich unterdrückt die Diskussion. Der Radiobeitrag von W.Stenke (15) ist vielleicht der einzige Versuch, Judt und die Jury inhaltlich zu verteidigen. Deswegen wird er etwas ausführlicher (siehe unten) behandelt, um die Lächerlichkeit seiner Argumentation offenzulegen.


1. Am 21.11.2007 im täglichen Programm des Bremer Fernsehens "Buten un Binnen":

Jüdische Gemeinde kritisiert Preisträger

Die jüdische Gemeinde Bremen ist unzufrieden mit der Verleihung des Bremer Hannah-Arendt-Preises an den Historiker Tony Judt. In einem offenen Brief hat ihm die jüdische Gemeinde vorgeworfen, Zitate zu manipulieren oder zu erfinden, um seine politischen Ansichten zu untermauern. Der in New York lebende Historiker Judt soll die Auszeichnung am 30. November erhalten. Finanziert wird der Preis vom Bremer Bildungssenator und der Heinrich-Böll-Stiftung.


2. Am 21.11.2007 in der späteren Ausgabe des Bremer Radios:

Jüdische Gemeinde Bremen kritisiert Preisvergabe

Die Jüdische Gemeinde Bremen hat die Vergabe des diesjährigen Hannah-Arendt-Preises an den britischen Historiker Tony Judt kritisiert. In einem offenen Brief wirft die Gemeinde der Preis-Jury, der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Bremer Senat vor, sie habe einen Mann mit einer israelfeindlichen Einstellung ausgewählt. Wenn jemand Jahr ein Jahr aus sage, Israel sei umstritten, gehasst und ein Besatzer und Kolonialist, dann sei das keine Kritik an der Regierung sondern eine antiisraelische Haltung, heißt es in dem Brief und weiter:
Der in New York lebende Historiker Judt vertrete die offizielle palästinensische Sicht auf die Geschichte, samt der erfundenen und verdrehten Fakten sowie des antiistraelischen Vokabulars. Kritisiert wird auch der Termin der Verleihung am Freitag kommende Woche und die zusammenhängende Diskussionsveranstaltung am Samstag Morgen. Juden, die traditionell den Sabbat begängen, seien so von der Teilnahme ausgeschlossen.
Peter Rüdel von der Bremer Heinrich-Böllstiftung kann die Kritik nicht nachvollziehen. Judt sei kein Israelkritiker sondern ein Kritiker der aktuellen Politik Israels. Ein Mann, der freiwillig in der israelischen Armee gedient habe, stelle gewiss nicht Staat Israel in Frage. Der Preis sei darüber hinaus auch in den vergangenen Jahren an einem Freitag verliehen worden.


3. Die TAZ widmete dem Ereignis einen Artikel von KLAUS WOLSCHNER am 23.11.2007:

Arendt-Preis für Israel-Kritiker

Die Bremer Jüdische Gemeinde kritisiert die Vergabe des Hannah Arendt-Preises an den New Yorker Historiker Tony Judt. Der kritisiert die Israel-Lobby in den USA und plädiert für ein binationales Israel

Dass die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an den Historiker Tony Judt zu Debatten führen würde, war klar - und anscheinend doch überraschend. In der Begründung der Jury für die Wahl des Preisträgers wird auf dessen kritische Position zu dem Staat Israel nicht eingegangen. Die Jury will Tony Judt würdigen "als eine Persönlichkeit, die sich in der öffentlichen Debatte über Europa und den Westen auf vielfältige Weise engagiert". Er sei ein "Historiker, der weiß, dass historische Ereignisse nicht ohne ihre vielfältigen Kontexte verstanden werden können", ein "politischer Denker, der seine Sicht auf die Geschehnisse der Zeit in die öffentliche Kontroverse einbringt", schließlich sei er ein "politischer Essayist" und "streitbarer Zeuge seiner Zeit". Die Jury bezieht sich auf sein 2005 erschienenes Buch "Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart".

Im vergangenen Jahr sollte Judt, Leiter des Remarque Institute an der New York University, im polnischen Konsulat einen Vortrag über Israel-Lobbyismus in der amerikanischen Außenpolitik halten. Als das polnische Generalkonsulat den Vortrag kurzfristig absagte, gab es eine große Debatte um die Meinungsfreiheit in den USA.

Judt, in seiner Jugend Zionist, plädiert heute für einen "binationalen Staat Israel", in dem Palästinenser und Juden zusammenleben sollen. In einem Essay für die New York Review hat er formuliert, Israel sei ein Anachronismus und die Frage aufgeworfen, ob in der heutigen Welt für einen jüdischen Staat Platz sei. Das ist der Punkt, an dem jetzt auch die Jüdische Gemeinde Bremen mit einem offenen Brief interveniert. "Sein Programm des binationalen Staates ist, nach treffenden Worten Leon Wieseltiers, keine Alternative für Israel, sondern die Alternative zu Israel", schreibt Elvira Noa für das Präsidium der Jüdischen Gemeinde. Dieser Aspekt der Bedeutung des Historikers Judt werde "in der Jurybegründung mit einem großem Schamblatt zugedeckt". Judt verbreite "die offizielle palästinensische propagandistische Sicht auf die Geschichte". Er sei als Historiker bei weitem nicht so anerkannt und gepriesen wie als Israel-Kritiker.

In der Tat ist Judt in den USA vor allem durch die Auseinandersetzung mit der Israel-Lobby in den Medien bekannt geworden. Er verbindet seine Kritik der Israel-Politik der USA mit einem Angriff auf die Legitimation der amerikanischen Juden: "Amerikanische Juden sprechen nicht Jiddisch, auch nicht Hebräisch, sie gehen nicht in die Synagoge, sie sind völlig amerikanisch", sagt er. "Ihr Judentum bestimmt sich durch zwei Momente: durch eine Identität im Raum, das ist die Identifikation mit Israel, selbst für jene, die niemals dort waren. Und durch eine Identität in der Zeit, eine Identifikation mit Auschwitz. Jude sein in Amerika bedeutet, Auschwitz erinnern und Israel unterstützen, weil Israel der beste Schutz vor einem neuen Holocaust ist."

Wohlwollende Kritiker nennen Judts Position zum gemeinsamen Staat von Juden und Palästinensern naiv. "Tony Judts Vorschlag, der als Jugendlicher eine hebräische Schule besuchte, im Haus seiner Großeltern mit jiddischer Kultur erzogen wurde und nach der Schule ein Jahr in einem israelischen Kibbuz lebte, ist eher der Ausdruck politischer Verzweiflung vor dem Hintergrund einer lebenslang favorisierten linkszionistischen Utopie denn ein ernsthaftes politisches Programm", meinte etwa Micha Brumlik in der taz.


4. Auf diesen Artikel folgte ein Leserbrief am 27.11.2007:

Verwirrende Kritik

Betr.: "Arendt-Preis für Israel-Kritiker", taz nord vom 23. 11. 2007

Tony Judt wünscht, dass Israel ein Staat wird, in dem Juden und Araber gleichberechtigt sind. Deshalb kritisiert die Jüdische Gemeinde Bremen, dass Tony Judt den Hannah-Arendt-Preis 2007 bekommt. Diese Kritik verwirrt. Wer sollte sonst diesen Preis bekommen? Genau das ist es doch, was Hannah Arendt forderte! Sie beklagte, dass die Amerikanische Zionistische Organisation 1944 das Programm Ben Gurions übernahm: das Ziel eines jüdischen Staates, der ganz Palästina umfassen solle: "Dies ist ein Todesstoß gegen die jüdischen Parteien in Palästina selbst, die die Notwendigkeit einer Verständigung zwischen dem arabischen und dem jüdischen Volk predigten... Wenn Zionisten auf ihrer sektiererischen Ideologie beharren und in ihrem kurzsichtigen 'Realismus' fortfahren, dann werden sie auch die kleinen Chancen verspielen, die kleine Völker in unserer nicht sehr schönen Welt heute noch haben." Fazit: Die Jüdische Gemeinde Bremen würde auch gegen die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Hannah Arendt protestieren. ROLF VERLEGER, Lübeck


5. Im Blog "Lizas Welt" wird das Thema am 26.11.2007 online besprochen(Link). Ein sehr gelungener Beitrag aus meiner Sicht, mit einer großen Wirkung.

6. Ingo Way hat in der "Jüdischen Allgemeinen Zeitung" am 29.11.2007 einen Artikel dazu geschrieben und online in seinem Blog gestellt (Link). Am selben Tage schrieb er noch einmal zum selben Thema.

7. Am 30.11.2007, am Tage der Preisverleihung, brachte die "Welt" einen größeren Artikel von Jacques Schuster zum Thema:

Empörung über Arendt-Preis für Tony Judt

Der englische Historiker Tony Judt erhält heute in Bremen den Hannah-Arendt-Preis, und die Jüdische Gemeinde der Stadt ist empört. In einem offenen Brief kritisiert ihr Präsidium die grüne Heinrich-Böll-Stiftung und den Bremer Senat. Beide verleihen den Arendt-Preis jährlich an Persönlichkeiten, welche "das 'Wagnis Öffentlichkeit' angenommen haben und das Neuartige in einer scheinbar sich linear fortschreibenden Welt denkend und handelnd erkennen und mitteilen", wie es in den Regeln der Preisverleihung etwas holprig heißt.
Tony Judt, der das Erich Maria Remarque Institut an der New York University leitet, gehört in den Kreis derer, welche das "Wagnis Öffentlichkeit" auf sich nehmen und damit genau den Ansprüchen gerecht werden, die die Träger des Vereins gestellt haben. Seit Jahren beeindruckt Judt seine Leserschaft durch scharfsichtige und kluge Studien über die Ideologien des 20. Jahrhunderts. Sein jüngstes Buch "Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart", die letztes Jahr in Deutschland erschien, gilt als gelungene Verbindung aus Geschichtspolitik, postnationaler Historiografie und Gesellschaftsgeschichte.
Missmut erregte der einst glühende Zionist Judt allerdings durch einen Aufsatz in der "New York Review of Books", den er 2003 geschrieben hatte. Darin attackiert er Israel. Das Land sei in den Nationalismus zurückgefallen, und es bleibe nur eine binationale Lösung, wenn der Konflikt mit den Palästinensern je beendet werden solle. Daraufhin empörte sich Judts langjähriger Freund, der Publizist Leon Wieseltier im Magazin "New Republic": "Ich habe noch nie jemanden getroffen, der das für irgend etwas anderes gehalten hätte als einen Aufruf zur Vernichtung des jüdischen Staates."
Die Vertreter der "Jüdischen Gemeinde im Land Bremen" beziehen sich auf diesen Streit, der in den Vereinigten Staaten heftige Kontroversen um Judt auslöste. Sie werfen der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Senat vor, bewusst einen Juden als Preisträger ausgewählt zu haben, der genau die "antizionistischen Klischees" ausspreche, die ein "deutscher Autor nach Möllemann" nicht mehr im Munde zu führen wagte. Judts Äußerungen zu Israel seien keine Kritik an der Regierung in Jerusalem, sondern stellten die Existenz des jüdischen Staates in Frage. Judt vertrete eine "antiisraelische Haltung", die vielleicht Israelis in der innerisraelische Debatte zustünden, aber nicht Außenstehenden. Noch pikanter werde es, "wenn einer erst durch solche Äußerungen prominent und mit Preisen überschüttet wird".
Die Jury, deren Wahl auf Judt fiel, verweist hingegen auf "die Persönlichkeit, die sich in der öffentlichen Debatte über Europa und den Westen auf vielfältige Weise engagiere". Von der Empörung in Amerika will sie nichts mitbekommen haben.
Der Preis, der mit 7500 Euro dotiert ist, wird heute Vormittag verliehen. Der ungarische Philosoph und Publizist Gáspár Tamás hält die Laudatio. Im Anschluss diskutiert eine internationale Runde, an der auch eine israelische Historikerin teilnimmt, mit dem Preisträger.


8. Im Laufe desselben Tages verschickte der Hannah-Arendt-Verein eine Meldung, die von der dpa übernommen wurde. In diesem Text wird weder der Protestbrief noch irgendeine Kritik oder sonstige Abweichung von der festlichen Stimmung erwähnt.

9. Am Abend desselben Tages sendete das Fernsehmagazin "Buten un Binnen" einen pikanten, obwohl offensichtlich ernstgemeinten Beitrag zur Preisverleihung, in dem der Moderator u.a. sagte:

Er ist Sohn jüdischstämmiger Eltern und lebt in New York.
...Judt gilt als ein Israelkritiker. Deswegen hat die Jüdische Gemeinde die Preisverleihung kritisiert.


10. Die TAZ hat am 1.12.2007 die unautorisierte Übersetzung der Rede des Preisträgers online gestellt und kommentiert:

In seiner Festrede über "Das ,Problem des Bösen' im Nachkriegs-Europa" anlässlich der Hannah-Arendt-Preisverleihung 2007 hat der Preisträger Tony Judt auch die Frage der Kritik an der israelischen Politik aufgegriffen. "Wenn mir gesagt wird, dass ich meine Kritik an Israel besser nicht zu laut äußern sollte, aus Angst, die Geister des Antisemitismus heraufzubeschwören, dann antworte ich, dass es genau andersherum ist", sagte Judt. Denn die Wahrheit sei, "dass Israel heute nicht in existentieller Gefahr ist".


11. Am selben Tag publizierte Robert Best einen großen Artikel im "Weser Kurier":

Eine umstrittene Ehrung
Historiker Tony Judt erhält den Hannah-Arendt-Preis

BREMEN. Eine vergleichbare Empörung gab es in der 13-jährigen Geschichte des Hannah-Arendt-Preises noch nie. Sie richtet sich gegen den Preisträger - den britisch-jüdischen Historiker Tony Judt - und kommt vor allem von Elvira Noa und Grigori Pantijelew von Bremens Jüdischer Gemeinde. Die beiden wandten sich in einem offenen Brief an die Hannah-Arendt-Jury, den Senat der Hansestadt Bremen und die Heinrich-Böll-Stiftung, die Judt den mit 7500 Euro dotierten Preis gestern im Rathaus verliehen hat. In dem Brief heißt es: "Wenn einer - jahrein, jahraus - sagt, Israel sei ‚umstritten’, ‚gehasst’, ‚ein Besatzer und Kolonialist’, ‚eine strategische Belastung’, ‚ein politischer Anachronismus’ etc., stellt sich die Frage: Was das soll?" Und: Judt gehöre zu denen, die "antizionistische Klischees aussprechen, die einem deutschen Autor nach Möllemann schlecht zustehen".
Seit Jahren tritt Judt mit Thesen in Erscheinung, die ihm einen Ruf als Vordenker, aber auch als politischen Provokateur einbringen. So trat er 2003 in einem Essay für eine Ein-Staaten-Lösung im Nahostkonflikt ein, für eine Nation, deren Bürger gleichermaßen Juden wie auch Christen und Moslems sein können.
Die Idee von Israel als rein jüdischem Staat habe sich überlebt, sagt er mit ruhiger Stimme. Sie sei unvereinbar mit einem demokratischen Anspruch. Schon heute lebten 22 Prozent nichtjüdische Menschen in Israel. Dem Einwand, ein binationales Modell könnte das Ende des Staates sein, kontert Judt mit der Bemerkung, es sei vielmehr seine einzige Alternative, wenn es nicht in "Selbstwidersprüchen" versinken wolle.

Auch Israels Verbindungen zu den USA kritisiert Judt mit harschen Worten. Es sei für beide Staaten sinnvoll, wenn "die bedingungslose Unterstützung" der USA ein Ende habe. Israel sei "an sich kein gefährdeter Staat": Es habe gute Verbindungen zu Ägypten und Jordanien, und auch mit Syrien sei ein Übereinkommen zu finden. Gefährlich sei indes die enge Bindung an die USA, die Israel zu einer Zielscheibe in Nahost mache. Israel erscheine "nicht überzeugend", wenn es vielerorts als "Flugzeugträger Amerikas" wahrgenommen werde.
Nicht im Interesse des Landes sei daher auch der Einfluss der "Israel-Lobby" in Washington, sagt Judt. Zudem würde diese ihre Kritiker zum Schweigen bringen. Judt bezieht sich auf pro-israelische Interessensvertreter wie die Anti Defamation League (ADL) oder das Israel Public Affairs Committee. Vor einem Jahr ist ein Vortrag Judts im polnischen Konsulat in New York kurzfristig abgesagt worden. Judt und andere machten dafür die ADL mitverantwortlich. Der Kommunitarismus in den kulturellen Gemeinden der USA sei so stark, so Judt, dass viele sich in Selbstzensur übten.

Auch die Vorwürfe der Jüdischen Gemeinde Bremens tut er als Anmaßung ab: "Sie können nicht anderen Juden sagen, was sie tun oder lassen sollen." Es gebe einen Unterschied zwischen Kritik und Antisemitismus. Einfach zu erkennen sei letzterer indes oft nicht, gesteht er ein: "Es ist wie mit Pornografie - sie ist nicht zu definieren, aber du erkennst sie, wenn du sie siehst." Israel sei jedoch nicht geholfen, wenn man über seine "aggressive Politik" schweige. Vielmehr sei es das Schweigen selbst - auch das über die Vernichtung der Juden in Europa -, das Vorurteile erzeuge.
Heute sei Europa indes auf dem Wege, zu einem Modell für andere Staaten und Gemeinschaften in der Welt zu werden, sagt Judt. Man müsse Europa nur verlassen, um sich seiner Stärken bewusst zu werden. Vielerorts werde die "gelungene Kombination von Marktwirtschaft und Sozialstaat, von demokratischen Institutionen und offener Gesellschaft" geschätzt. Wenn Europa nicht zu einem geschlossenen Auftritt finde, so Judt, dann verspiele es seine Chance, eine Alternative zu China und den USA abzugeben und werde letztlich irrelevant.


12. Darauf antwortete das Präsidium der Jüdischen Gemeinde sofort mit einem Leserbrief, der allerdings erst am 8.12.2007 veröffentlicht wurde:

Zum Artikel "Eine umstrittene Ehrung" vom 1. Dezember:

Bitte um mehr Normalität
Wir begrüßen die ausführliche Darstellung der umstrittenen Hannah-Arendt-Preisverleihung. Die Stimme einer Jüdischen Gemeinde muss nicht als Mahnung wahrgenommen werden: Wir hätten gerne mehr Normalität eines Dialogs auf gleicher Augenhöhe.

Das setzt aber unter anderem voraus, dass man einander zumindest nicht ignoriert. Wir haben auf unseren Brief keine Antwort bekommen, weder von der Jury, die sich der Förderung des politischen Denkens und Diskurses verschreibt, noch von der Stiftung noch vom Senat.

Es ist uns wichtig zu betonen, dass unser Protest nicht nur gegen Judt, sondern vor allem an die Entscheidungsträger gerichtet ist. Erst durch unseren Brief wurden die Medien hellhörig und brachten kritische Punkte ins Gespräch - die Jurybegründung schweigt darüber bedeutungsschwer.

Der gelungene Beitrag der Zeitung zeigt deutlich, wie die Verteidigung der Juryentscheidung dem narzisstischen Preisträger überlassen wird.

Die Institutionen, die sich weiterhin bedeckt halten, beweisen auf diese Weise - aus Angst vor unseren Argumenten? - mangelhafte Fähigkeit zur offenen ausgewogenen politischen Diskussion. Sowohl die Preisverleihung als auch eine Diskussion wurden auf die Schabbatzeit angesetzt, also die Zeit vom Freitag- bis zum Samstagabend, was automatisch Jüdinnen und Juden von der Teilnahme ausschließt.

Wenn wir selbst nicht aktiv geworden wären, wüsste vielleicht keiner mehr, dass daran etwas nicht stimmt. Wie schön, dass es Zeitungen gibt.

ELVIRA NOA UND DR. GRIGORI PANTIJELEW,
JÜDISCHE GEMEINDE BREMEN


13. Am 4.12.2007 bekam ich die Grußrede der zweiten Bürgermeisterin der Stadt Bremen Karoline Linnert bei der Preisverleihung. Darin geht sie unter anderem auch auf den Protest der Jüdischen Gemeinde ein. Im Begleitbrief berichtete deren Referentin, dass Frau Linnert darüberhinaus noch einige Gedanken über unerschrockene, mutige und unbequeme Meinungen, die dadurch nicht unbedingt immer richtig seien. In dem Zusammenhang bezeichnete Frau Linnert es als wichtig, die Auseinandersetzungen über Meinungen ohne Starrsinn zuzulassen, die Bereitschaft sich dem Austausch zu stellen und dazu zu lernen. So könne aus dem Dialog etwas Fruchtbares entstehen.

(Als eine Bemerkung möchte ich hier ergänzen, dass es inzwischen zu einem klärenden Gespräch zwischen dem Präsidium der Jüdischen Gemeinde Bremen und Karoline Linnert gekommen ist. Vorbildlich!)

14. In der "Jüdischen Zeitung" (Dezember-Heft 2007) hat Frank König im Artikel "Lob und Tadel" verschiedene Stimmen beschrieben, u.a. auch aus dem Protestbrief zitiert sowie eine Reaktion der Vorsitzenden der Jury, Antonia Grunenberg, wiedergegeben. Sie

ist empört über "einen derartigen Brief", der völlig unsachlich "gegen eine einzelne Person, nämlich gegen Tony Judt, in diffamierender Weise vorgeht und damit gerade eine Art der Kritik öffentlich praktiziert, gegen die Hannah Arendt zeitlebens energisch protestierte".


15. Am 2.1.2008 habe ich den Text des Radiobeitrags von Wolfgang Stenke bekommen, der am 29.11.2007 im WDR und NDR gesendet wurde. In der Einführung wird zuerst die bekannte Unwahrheit weiter verbreitet: Angeblich wurde Judts Vortrag im polnischen Konsulat in New York durch die Einmischung des jüdischen Lobby verhindert - in Wahrheit durch die Entscheidung des Konsulats angesichts der bilateralen Beziehungen zwischen Polen und Israel. Weiter - im Besitz des Protestbriefs der Jüdischen Gemeinde - wird die Unwahrheit verbreitet, am Samstag finde eine Diskussion Judts mit seinen Kritikern statt.

Im weiteren Verlauf wird Tony Judt selbst dazu befragt. Seine Antwort:

Clearly, they have only read one article I’ve written (...) and so they are not in a good position to make judgements, it seems to me. (...) I lived in Israel many years ago. Maybe I know a little more about the Middle East than some of the people in the Bremen Jewish Community and I really feel that it’s a pity that they should set themselves up as official authorities on who can and who can not speak about Israel.

The tragedy is that a uniquely jewish state is becoming increasingly impossible, because there will soon be a majority of Arabs in the territory governed by Israel. A 2-state-solution would still be in my view the best outcome, but I don’t see it happening in any way which will be acceptable to both sides. And this, I think, is a truth which is very unwelcome to many of my critics.


Judt, wie wir ihn kennen: Unterstellungen und persönlich gefärbte Argumente, völlig losgelöst von der Realität, wenn es um die Politik geht.
Stenke schliesst sich Judt an:
Den Protest der Jüdischen Gemeinde Bremen gegen die Wahl der Jury sieht Judt als Versuch der Zensur.

Das tut Judt immer, wenn er sich mit Kritik konfrontiert sieht. (Das kann man bei Leon Wieseltier nachlesen, verlinkt bei "Sendungsbewusstsein".)
Noch deutlicher ist die weitere Parteinahme des Autors:

Die Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde Bremen bleiben bei solchen Verdikten nicht stehen. In ihrem offenen Brief wird die Arbeit von Tony Judt pauschal diskreditiert, sein jüngstes Europa-Buch als Ansammlung „vieler Geschichtchen“ verworfen, ohne – Zitat – „ein System bzw. eine Vision der Geschichte“. Als Basis dieses Urteils bemüht man den Pressedienst „Perlentaucher“, auch wenn der – mit Ausnahme einer Buchkritik der „Neuen Zürcher Zeitung“ - durchweg anerkennde Stimmen zu Judts Studie nachweist. Solch manipulativer Umgang mit publizistischen Quellen paßt zur Etikettierung eines renommierten Gelehrten [...]

Stenke fragte mich in einem Telefonat, warum denn das Buch von Judt von uns so negativ bewertet werde, und bekam von mir eine Empfehlung, auf einem einfachen Wege Kritiken durchzulesen, weil sie eben beim Perlentaucher.de aufgelistet wurden. Wäre er diesem Rat gefolgt, hätte er zitieren müssen:

Er rekonstruiert Zusammenhänge, liefert aber keine große Theorie ... Spezialisten werden wenig Neues erfahren (und an manchem Detail etwas auszusetzen haben), aber das würde die gelungene Synopse und ein faszinierendes Narrativ verkennen, das an Ironie und Sarkasmus nicht spart und wohldosiert Anekdoten und Reiseeindrücke einfügt ... [Claus Leggewie,"Die Zeit" vom 28.9.2006]

Radikale Pluralität hingegen statt der "großen Erzählungen", das ist das Signum der Postmoderne. Deren Kind ist so gesehen auch dieses Buch, im Hinblick auf die Geschichtsschreibung ebenso wie auf ihren Gegenstand. ... Diese These ist wie das gesamte Buch weniger stringent und systematisch oder in klaren Kategorien herausgearbeitet als vielmehr rhapsodisch und durchaus eklektisch argumentiert, auch nicht ohne Widersprüche und Einseitigkeiten. [Andreas Rödder, FAZ vom 4.10.2006]

Fazit: Ein langes Buch mit viel Inhalt, aber ohne grosse These, ohne Zusammenhalt. [Ute Frevert, NZZ vom 2.10.2006]

Tony Judts Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart gehorcht keiner Großtheorie. Auch ein überwölbendes Motiv hat sie nicht; sie mäandert durch eine Vielzahl disparater Themen ... [Christoph Boyer, sehepunkte 7 (2007), Nr. 5 {15.05.2007}


Auch die lobenden Rezensionen sind sich also einig im Bezug auf die zwei Kritikpunkte, die im Protestbrief erwähnt werden. Der Leser kann selbständig beurteilen, wer hier manipuliert... Stenke weiter:

Fazit: Mit seinem „offenen Brief“ hat der Vorstand der Bremer Gemeinde sich vergaloppiert . Er hat jedes Recht, Judts Thesen der Kritik zu unterziehen – auch einer polemischen. Doch der Versuch, einem international geachteten Historiker die wissenschaftliche Reputation abzusprechen, wird von dieser Lizenz zur Kritik nicht gedeckt.

Das wird langsam langweilig. Die Reputation von Judt ist längst problematisch - grundsätzlich seitdem er über das Thema Israel angefangen hat zu publizieren, und zwar in unwissenschaftlicher Art und Weise, mit der nachgewiesenen Verdrehung von Zitaten (siehe die Reihe der Postings im Blog "Sendungsbewusstsein") und insbesondere nachdem er anschliessend seine Unfahigkeit gezeigt hat, mit Kritik umzugehen. Er darf seine "Israelkritik" genauso aussprechen wie jede andere private Person, die darüber nicht schweigen kann. Je mehr er das tut, desto weniger bleibt von seiner Reputation. So einfach ist das! Wem das alles noch zu wenig ist, kann sich noch eine kleine Auswahl von englischsprachigen Texten zum Thema Judt antun - von Sol Stern bei "FrontPage Magazine", von Adam Kirsch bei "New York Sun", von Rick Richman bei "Jewish Current Issues".
Genauso wenig übrig bleibt von der Reputation des Preises und seiner Jury. Wann merkt das die Heinrich-Böll-Stiftung? Wann kommen Schlussfolgerungen?

23. Januar 2008

Zwei Ansprachen

Seit Jahren trifft sich im Bremer Rathaus ein Kreis mit dem wunderbaren Namen "Religionen beten für den Frieden". Ich kommentiere hier weder die Idee noch die Ausführung. Nach der neuesten Veranstaltung dieser Runde, mit vollem Saal, wurde ich gefragt, ob ich meine Ansprachen, die ich dort gehalten habe, veröffentlichen mag. Ich stelle hier die zwei letzten online.

Ansprache am 21.1.2007. Bremen. Obere Rathaushalle. Hebräisch ausgesprochene Stellen bringe ich hier nur in der deutschen Übersetzung, meist von Martin Buber.

Auf den Schönheitswettbewerben und in der Friedensbewegung ist es üblich, sich über den Weltfrieden Gedanken zu machen. Ich möchte bescheidener, mit der Stadt Bremen anfangen. Seit Sommer 2006, als infolge einer kriegerischen Auseinandersetzung im Nahen Osten nicht weniger als vier Demonstrationen durch diese Stadt zogen und dabei nicht ganz gewaltfrei und nicht ganz judenfreundlich sich zeigten, haben wir - durch Medien und Politiker der Stadt - unseren Willen zum Dialog bekundet. Wir haben Vertreter der palästinensischen und libanesichen Gemeinschaften zu einem Gespräch eingeladen. Es geht uns um Frieden in dieser Stadt, hier, wo wir wohnen. Können wir das erreichen?

Papst Benedikt der XVI. hat vor einem Monat geschrieben: "Frieden kann nur dann entstehen, wenn er das gemeinsame Bestreben von Juden, Christen und Muslimen ist, das ausgedrückt wird in einem wahren interreligiösen Dialog und konkreten Gesten der Versöhnung. Alle Gläubigen sind aufgefordert zu zeigen, daß nicht Haß und Gewalt, sondern gegenseitiges Verstehen und friedliche Zusammenarbeit die Tür öffnen werden zu jener Zukunft der Gerechtigkeit und des Friedens, die Gottes Verheißung und Geschenk ist." Der Papst erwähnt hier die drei großen Weltreligionen. Es ist schön, dass das Spektrum der in diesem Saal vertretenen Religionen viel breiter ist. Der Papst fordert zu konkreten Gesten der Versöhnung auf. Die Erfahrung lehrt, es kommt dabei oft dazu, dass man konkrete Gesten von den anderen erwartet. Auch hier würde ich eine andere Intention einbringen - vielleicht möge jeder bei sich selbst anfangen. Wie Rabbiner Mendel sagte: "Wenn Du Deinen Gefährten einen Fehler begehen siehst, dann beschuldige ihn nicht, sondern denk Dir: 'Nach welchen Ausreden würde ich suchen, um mich an seiner Stelle zu rechtfertigen.' Diese Rechtfertigung sollst Du auch für ihn suchen und Dich bemühen, ihn zu entschuldigen. Und so ist die Schrift zu verstehen: "Sei liebend zu deinem Nächsten wie du möchtest, dass der Nächste liebend ist zu dir". Können wir das?

Können wir zu einem Dialog kommen, der als solcher, als die Tatsache eines Dialogs schon von Respekt voreinander zeugt und Frieden bereitet, wie noch eine Rabbinergeschichte zu erzählen vermag? "Einst fuhr Rabbi David mit seinem Schüler Jizchak (...) zu einem Ort, wohin er zu kommen gebeten worden war, um zwischen den beiden Gegnern eines langjährigen Streits Frieden zu stiften. Am Shabbat betete er vor der Lade. Die beiden Gegner waren anwesend. Nach Shabbatausgang hieß er den Wagen zur Rückfahrt anspannen. "Der Rabbi hat doch noch nicht durchgeführt," bemerkte der Schüler, "um wessentwillen er hierhergekommen ist." "Du irrst dich," sagte Rabbi David. "Als ich im Gebet gesprochen hatte:
'Der Frieden in seinen Himmelshöhen stiftet, er stifte den Frieden für uns', da war der Frieden geschlossen." Und so war es in der Tat."


Ansprache am 20.1.2008
Die jüdische Gemeinde schließt sich dieser heutigen Veranstaltung gerne an - aus Respekt und in großer Wertschätzung der jahrzehntelangen Tradition des Bremer Rathauses. Wir danken Herrn Bürgermeister Böhrnsen herzlich dafür, dass auch er sich für diese Tradition einsetzt.

Dazu möchte ich Ihnen eine alte Geschichte vortragen.

In der Stunde, als Mose von dem Ewigen hinabgestiegen war, kam der Widersacher und sagte vor Ihm: „Herr der Welt, wo ist sie, die Weisung?“ [Gemeint ist die Tora.] Der Ewige sprach zu ihm: „Ich habe sie zur Erde gegeben.“ Da ging der Satan zur Erde und fragte sie: „Wo ist sie, die Weisung?“ Sie sagte zu ihm: „Gott kennt ihren Weg.“ Er ging zum Meer, da sagte es zu ihm: „Nirgends bei mir.“ Er ging zum Urwirbel, der sagte zu ihm: „In mir ist sie nicht.“ Man kann Barren nicht für sie geben, ihren Preis nicht in Silber wägen, mit Gold und Glas kann man sie nicht bewerten. Vor alles Lebendigen Augen ist sie verhohlen, noch vor dem Vogel des Himmels versteckt. Die Verlorenheit und der Tod sprachen: „Mit unsern Ohren hörten wir ein Hörensagen von ihr.“

Der Satan kam zurück und sagte vor dem Ewigen: „Herr der Welt, ich habe die ganze Welt durchsucht und habe die Weisung nicht gefunden.“ Der Ewige sprach zu ihm: „Geh zum Sohn Amrams!“ Der Widersacher ging zu Mose und sagte zu ihm: „Wo ist sie, die Weisung, die dir der Ewige gegeben hat?“ Mose antwortete: „Was bin ich denn schon, dass mir der Ewige die Weisung gegeben hätte?“
Der Ewige sprach zu Mose: „Mose, bist du ein Lügner?“ Mose entgegnete: „Herr der Welt, du hast eine verborgene Kostbarkeit, an der du dich alle Tage vergnügst. Ich aber, soll ich es mir selber als Verdienst anrechnen?“ Der Ewige sprach zu Mose: „Da du dich selber so gering gemacht hast, soll sie nach deinem Namen genannt werden.“ Denn es heißt: „Gedenket der Weisung Moses meines Knechts, die ich ihm am Choreb für Israel allsamt entbot, Gesetze und Rechtsgeheiße.“

Abschließen möchte ich mit einer Einladung: "Denn mein Haus ist ein Haus für alle Völker", sagt der Prophet Jesaia. Es steht als Überschrift über dem Portal der Synagoge. Sie sind alle herzlich eingeladen, an unseren Gebeten für Frieden in unserer Synagoge teilzunehmen.

4. Januar 2008

George Steiner und seine ungeschriebenen Bücher

Das Buch heißt "Meine ungeschriebenen Bücher". Wie alles von George Steiner, lesenswert. Provozierend zum Mitdenken - und auch zum Schreiben. Den folgenden Text hat die "Jüdische Zeitung" Januar 2008 gedruckt.

Sind wir nicht alle ein bisschen jüdisch?

Dem glücklichen Zufall verdankt der deutsche Leser das bittere Glück, die (übrigens vorzügliche!) Übersetzung vier Monate früher in die Hände zu bekommen: Das englische Original der „Ungeschriebenen Bücher“ von George Steiner erscheint erst im Januar. Jorge Luis Borges wäre neidisch gewesen.

Das vierte von sieben Essays heißt Zion und verdient wohl einen besonderen Platz in der jüdischen antizionistischen Literatur. Tony Judt oder Rolf Verleger können sich warm anziehen: Vom brillanten Literaten, universalen Kenner der Weltkultur, der Generationen zum Nachdenken bewegt hat, hätte auch keiner etwas Minderwertiges erwartet. Steiner beherrscht das Material glänzend, er führt das Jüdische im Menschen sehr plastisch vor und ist selbstreflexiv genug, um seine Ablehnung des realen Staates Israel zu hinterfragen:

„Es kann sein, dass die Shoa meine Überzeugung ad absurdum geführt hat. Doch ich wiederhole: Lasst uns überleben, wenn überhaupt, als Gäste unter den Menschen, als Gäste des Seins selbst.“

So bewundert er einerseits die mehrtausendjährige Tradition „talmudischer Exegese und der tertiären Hermeneutik“. Seine Freude ist überschäumend, wenn er den witzigen Aphorismus zitiert: “Ein Jude ist ein Mensch, der beim Lesen einen Bleistift umklammert, weil er darauf aus ist, ein besseres Buch zu schreiben“. Hier und weiter schreibt er einem Juden seine Lieblingseigenschaften zu, teils an sich beobachtet, teils an den anderen bewundert. So zeichnet er das Portrait eines Wanderers wie er, eines ruhelosen Skeptikers wie er, eines Überlebenswunders wie er, eines Geschichtenerzählers und Sprachkünstlers wie er.

Nebenbei, beinahe beiläufig erklärt er die Parabel Kafkas „Vor dem Gesetz“ - „vielleicht das einzige wahre Addendum, mit dem die säkulare Literatur die Thora bereichert hat“. Es bleibt diesen Satz nur vom Kopf auf die Füße zu stellen: Im Kontext der talmudischen Türhüter-Geschichte sieht man den Menschen, der sich zu dem Sinn seiner Existenz durchringt oder eben nicht. Bereicherung? Kafkas Gleichnis ist eher eine Negierung. Nach Steiner wird der Jude „gehasst, nicht weil er Gott ermordet, sondern weil er ihn erfunden und geschaffen hat.“ So folgt Steiner durchaus Kafka, der bekanntlich schrieb: „Eher hassen wir uns selbst, weil wir noch nicht des Gesetzes gewürdigt werden können.“ Zwischen Heine und Th. Lessing fiebert diese Unruhe durch. Es ist eine christliche Aburteilung der jüdischen Lehre, der Blick eines gründlich getauften Juden. Steiner setzt es fort, im dichten Netz von Metaphern und Zuschreibungen, die nicht dem Kern des Judentums entspringen, sondern von der Sprache der Philo- und Antisemiten geprägt sind. Er führt Montaigne und Proust als „Halbjuden“ ein und wundert sich über den „Außenseiter“ Darwin. New York ist für ihn „die Hauptstadt des Judentums“. Seitenlang träumt er von dem „Begriff eines jüdischen Genpools“.

Doch es geht noch besser: „Die jüdischen Vertrautheiten mit Geld sind in gewissem Sinne instinktiv gewesen“. Auch heute stehe „ein bedeutender Prozentsatz des globalen Finanzwesens unter jüdischer Verwaltung“. Sogar „im postkommunistischen Russland ist ein so großer Teil der Räuberbarone, der milliardenschweren Unternehmer aus einer lange Zeit verachteten, verfolgten Minderheit plötzlich herausgetreten.“ Doch auch dies ist noch nicht der Weisheit letzter Sch(l)uss: „Jüdische Abgesondertheit führte zu Argwohn und Schlimmerem“ und hat „den Nichtjuden entnervt und erbittert.“ Und am meisten stört es den „Luftmenschen“, dass der Staat Israel „Juden zu gewöhnlichen Menschen gemacht“ habe.

Steiner merkt, dass seine Äußerungen ungeheuer sind, und entschuldigt sich dafür, dennoch sein Text gipfelt in der „Rechtfertigung der Diaspora“. Er ist ein Gefangener seiner Sprache und sie führt ihn in ihrer Logik an dem lebendigen Menschen vorbei ins Reich des Geistes. Angesichts der Shoa-Erfahrung und Angst, wieder vernichtet zu werden, wählt er wie Sabbatai Zewi den Weg des Lossagens aus. Ist er aus Menschlichkeit bereit, Menschen sterben zu lassen? Er spricht dies nicht aus, das ist nur die Konsequenz seiner Logik, die ihm verschlossen bleibt. Wie auch die anderen „guten Juden“, baut er dem Juden an und für sich ein übergroßes Piedestal auf und schickt ihn ins Himmelreich, versehen mit dem Schild – für die Erde nicht zugelassen. Am Ende beteuert Steiner, warum er das Buch über Zion nicht geschrieben habe: „Mir fehlte dafür die Klarheit des Blicks“. So ziemlich.