4. Juli 2008

Eine Antisemitismus-Anhörung

Am 16.6.2008 fand die Anhörung im Innenausschuss des Bundestages statt, die sich dem Thema Antisemitismus widmete. Nette Mitarbeiter des Bundestages waren bereit, die Videoaufnahme des Sitzung sofort online zu stellen. Vier Stunden später war es soweit. Der Text über die spannende Show erschien in der Jüdischen Zeitung (Juli-Ausgabe), leider etwas abgemildert. Hier folgt die Originalfassung:

Wenn ich das Wort Antisemitismus höre…

Jede Politikergeneration braucht ihre Anhörung zur Bekämpfung des Antisemitismus, so haben sich auch Fachleute und Mitglieder des Innenausschusses im Bundestag am 16. Juni mit dem Thema befasst. Unterm Strich bleibt das beruhigende Gefühl - gut, darüber gesprochen zu haben. Erfahrenere Abgeordnete erinnern sich, schon einmal dieses Gefühl gehabt zu haben. Sie hätten diesmal gerne etwas mehr davon, wissen aber nicht, was man mehr tun kann als man sowieso schon immer getan hat.

Sie laden Experten dazu ein (am besten Juden selbst) und lassen sie miteinander streiten. Fazit: Erstens gibt es keine Einigung über die Definition. Die Regierung weiß alles besser und will nicht darin belehrt werden, Gerichte ebenso wenig. Infolgedessen sind Statistik und Gerichtsbarkeit im Dissens mit der Meinung der Sachverständigen. Im Klartext: Nicht alle antisemitischen Straftaten werden als solche behandelt.

Zweitens sind die Ausrichtung und Methoden des „Kampfes“ unklar. Soll man den brutalen rechtsextremen Schläger aufklären? Nein, den übergibt man der Polizei und der sekundären Prävention im Knast. (An dieser Stelle sind andere Statistiken hilfreich, die bei der Anhörung unerwähnt geblieben sind, – es gibt nämlich kaum Verhaftungen/Verurteilungen von Tätern mit antisemitischer Motivation.) Man spricht weiterhin von „moslemischen Jugendlichen“. Einige versuchen zwischen solchen aus türkischen, libanesischen und palästinensischen Einwandererkreisen zu differenzieren, das ist aber für die meisten immer noch zu kompliziert, bitte zuerst erforschen. Der Antizionismus der linken Szene, der sich zunehmend mehr Platz in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft verschafft hat, ist für die meisten ein Novum, denn Heitmeyer habe das noch nicht evaluiert. Mit anderen Worten, was nicht erforscht wurde, existiert nicht.

Drittens, die Verbreitung antisemitischer Inhalte via Internet lässt sich nicht eindämmen. Man sollte also eher am Konsumenten als am Produzenten ansetzen. Muss man das aber überhaupt tun, wenn das Phänomen ein perpetuum mobile und die Entwicklung der judophoben Einstellungen wellenförmig ist?

Viertens: Ist es überhaupt möglich, die Judenfeindschaft zu bekämpfen? 15 bis 20 % der Bevölkerung überall in Europa sind latent bis manifest antisemitisch, konstant durch alle Forschungsjahre, mit kleinen politisch- und skandalbedingten Abweichungen. Kann es eine „radikale Aufklärung“ geben?

Die Abgeordneten versuchen die Entscheidung auf andere Schultern zu übertragen. Ernstlich fragen sie die Regierung: Was braucht diese, um den Antisemitismus zu bekämpfen? Diese antwortet ganz brav: Wir brauchen nichts, es geht uns gut. Fünf antisemitisch motivierte Gewalttaten pro Monat im Durchschnitt, international gelobt, besser als die anderen. Und was wünschen sich die Sachverständigen? Wissenschaftler wollen mehr Geld, Aufklärer – mehr Finanzierung, jüdische Organisationen – einen Bundesbeauftragten der Regierung als Ansprechpartner. Im Raum steht also der Wunsch nach einem unabhängigen Expertengremium unter Leitung eines Beauftragten, welches jährlich einen Bericht erstellt, am besten nicht nur über den Stand des Antisemitismus, sondern über alle Formen der Diskriminierung. Noch schöner wäre es, diesen Beauftragten mit den Befugnissen auszustatten, für Toleranz und Demokratie aufzutreten.
Ich stelle mir das bildhaft vor: Der Beauftragte kommt, der Antisemitismus geht. Wir werden uns wundern, was ein Mensch so alles erreichen kann! Wie viele werden aufatmen und sagen: Dafür bin ich nicht zuständig, weder mein Ressort noch mein Budget, damit gehen Sie zum Bundesbeauftragten!

Kein Einziger ist dagegen, gute Sache! Leider gab es nicht genug Zeit, um diese Idee sofort zu beschließen oder gar auf der Stelle zu verwirklichen: Einige mussten abreisen. Frei nach Tucholsky – wegen der frühen Abreise wurde die Bekämpfung des Antisemitismus bis zum Ende des Jahres vertagt. Immerhin fast vier Stunden dauerte es. Genießen Sie die Videoaufnahme online!

Mühsam sind die Wege der Demokratie. Wann wird wohl die zivile Gesellschaft ihre Grenzen und Schattenseiten kennen lernen? Lernen, den Prozentsatz der Antisemiten hinzunehmen und selbst couragiert aufzutreten, ohne es dem Parlament allein zu überlassen? Wird es dazu kommen?