4. Oktober 2008

Wie oft darf man über den Antisemitismus streiten?

Nach dem sinnlosen Rechtsstreit über antisemitische Äußerungen haben mehrere Zeitungen versucht, einen nicht weniger sinnlosen Streit zu installieren, wer darüber entscheiden darf, was antisemitisch und was nicht antisemitisch ist. Dabei stellte sich heraus, dass es nicht so schlimm ist, ein Antisemit zu sein. Viel schlimmer ist es, einen Antisemiten als solchen zu bezeichnen.

Der folgende Text versucht, etwas tiefer hinter die Kulissen des Spektakels zu schauen (Jüdische Zeitung, Oktober 2008).

Im Elfenbeinturm der Israelkritik

Den Staat Israel zu kritisieren ist verboten und ein Tabu. Nur die mutigsten Menschen wagen das – in ständiger Angst, mundtot oder gar tot gemacht zu werden. Warum? Ganz einfach: „Vor allem in Deutschland kann der Antisemitismus-Vorwurf tödlich sein, und so hüten sich viele Juden wie Nichtjuden davor, den Mund aufzumachen.“ So Michal Bodemann in der TAZ.

Die Realität sieht anders aus – man liest ununterbrochen die so genannte Israelkritik, sie gehört zum Mainstream der deutschen Medien und zur vox populi als deren Lackmus- oder Feigenblatt. Die Angst vor angeblicher Bedrohung durch Israel ist in den Meinungsumfragen stets hoch und negativ gefärbte Meldungen über Israel erreichen uns alltäglich.

Im Spannungsfeld zwischen Arroganz und schlechtem Gewissen gedeiht die Israelkritik, sie ist sehr empfindlich gegenüber der Entblößung und nimmt jede Entgegnung äußerst persönlich. Eiertanz-Spezialisten sind bereit, sich antizionistisch zu bekennen, und erlauben den anderen, sich in ihrer Anwesenheit antisemitisch zu äußern. Vor allem schreiben sie gerne Leserbriefe, die sich zur Fortsetzung der Debatte eignen, wenn ein Medienprofi sich verstecken will. Auf bestimmte Weise chiffrierte Botschaften rufen eine bestimmte Klientel hervor, die sich zu Wort meldet. Wenn nach der fortdauernden Überflutung durch die dpa- und afp-Israelschelte ein Jude als Kronzeuge aussagt, die Israelkritik sei in Deutschland verboten, kann er eines Interviews sicher sein (genauso wie Finkelstein einer Einladung zu Christiansen!). Daraufhin erklingen Stimmen, die sich über diesen Quatsch empören, dies sei weit von ernstzunehmender Kritik an den Verfehlungen israelischer Politik entfernt und nicht gerade von Weitblick auf das Weltgeschehen geprägt. Dann schlägt die Stunde der Leserbriefe – die unschuldige Redaktion überlässt ihnen das Wort, und dann kommt es: quod eram demonstrandum, warum darf man denn Israel nicht kritisieren etc.

Andererseits können angestellte Journalisten sich auch nicht immer zurückhalten. Sie glauben innig, im Rechte zu sein – sowohl beim Bestimmen, wie Israelpolitik auszusehen hat, als auch in dem Bekenntnis zur Grenzenlosigkeit der Israelkritik. Beides kann man nicht immer den Leserbriefen überlassen. Eine ausgeglichene Darstellung der Tatsachen und Meinungen besteht für die meisten Redaktionen im unermüdlichen Israelbashing, zu dem die Enttäuschung über die Rede der Kanzlerin vor der Knesset kommt sowie keine Richtigstellung, wenn eine zu schnell übernommene Fälschung desavouiert wurde. Dazu „kein Jahr ohne Antisemitismusstreit“, sagen sich Qualitätsjournalisten, die sich plötzlich einig sind, wo sie sonst so gerne miteinander streiten.

In dem aktuellen Broder-Fall wollen Feuilletonchefs von FAZ und SZ noch einmal klarstellen, wer die Hoheit über die Meinungsbildung im Lande hat. Eine notorische Leserbriefschreiberin wird zur Publizistin und Tabubrecherin auserkoren. Sie kämpft gegen die allmächtige jüdische Lobby. Irgendwann wird sie vom Fachmann auf dem Gebiet der Antisemitismusforschung als noch ein Beispiel für die beschriebene Medienstrategie bemerkt und als das, was sie ist, entlarvt. Patrick Bahners und Thomas Steinfeld warten nur darauf und erwidern im Ton eines Moralpredigers, die Meinungsfreiheit sei in Gefahr, Israelkritik werde mundtot gemacht, der Stil verkommt, o tempora, o mores!

Clemens Wergin in der „Weltdebatte“ sowie Silke Tempel in der „Jüdischen Allgemeinen Zeitung“ antworten darauf mit der Spiegelung der Invektive. Doch überflüssig ist es, auf eine Reaktion von Bahners und Steinfeld zu warten. Sie kommt nie – und der Grund dafür ist weder Angst vor Argumenten noch Scham, sondern die unerschütterliche geistige Überlegenheit.

In der Tat wird nicht die Israelkritik in Frage gestellt, sondern genau andersherum: Es findet ein weiterer Missbrauch vorhandener Ressentiments statt. Die meisten Zeitungen pflegen eine einseitige Schilderung der Ereignisse in und um Israel und nutzen dabei und dafür auch Leserbriefschreiber aus, anstatt sich von diesen zu distanzieren. Sie betrachten die Kritik an solchen Autoren als Kritik an sich und sehen darin den Angriff auf ihr natürliches Monopol, das sie mit Meinungsfreiheit verwechseln. Ein Tadel, der unterstellt, dass sie ihre Rolle möglicherweise missbrauchen, kann sie nicht erreichen: Das käme einer Majestätsbeleidigung gleich.

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