23. Mai 2011

Wie in den alten Zeiten

Am 21. Mai 2011 gastierte Lorin Maazel in Bremen. Ein Ereignis. Ein Artikel für den Weser Kurier:

Während die anderen 9-jährigen Buben im Sandkasten spielten, dirigierte Lorin, das Wunderkind. Während sich andere 81-jährige Greise im Altersheim langsam vergessen, dirigiert Maazel immer noch. Und wie!

Im Violinkonzert Mendelssohns legte er der Geigerin Arabella Steinbacher einen wunderbaren Klangteppich aus, sie konnte ihren vollen, gut ausgeglichenen Ton in perfekter Virtuosität präsentieren, andererseits blieb ihr wohl nicht viel Selbständigkeit: Maazel herrschte und bestimmte. Nur in der Solokadenz war Steinbacher gestalterisch frei, überzeugend und mitreißend. Ganz in diesem Sinne wurde der zweite Satz des Konzertes der beste, da hier eine echte Balance zwischen Orchester und Solistin, zwischen dem gelebten, gefüllten und gefühlten Takt und der Fortbewegung der fließenden Motive gefunden wurde. Eine stilechte, keinesfalls überromantische, in keinster Weise trockene Darbietung.

Für Mahlers Erste Symphonie braucht man nicht wenig – einen inspirierenden Dirigenten und ein Orchester, das sich inspirieren lässt. Maazel und das Philharmonia Orchestra London bilden eine glückliche, seltene Symbiose darin. Kaum zu glauben, aber der Orchesterklang breitete sich in der Glocke vollkommen aus, war auf einmal farbenreich, detailliert, intensiv (insbesondere bei den Cellisten). Gewohnt an die in Watte gepackte saubere handwerkliche Leistung des heimischen Klangkörpers, der wie seit neuem bekannt, in Sachen Mahler seit den 20-ern ganz vorne und allen voraus ist, konnte man hier echte Kunst atmen, miterleben und bestaunen.

Maazel verstand Mahler nie hermeneutisch, er erzählt auch hier keine Geschichte über einen jungen Menschen, der ins Leben eintritt und erwachsen wird. Vielmehr erklingt eine überaus faszinierende Klangwelt, gesättigt mit phosphoreszierenden Farben, pulsierenden Bewegungsabläufen. Wo bei den anderen Orchestern das Langsamer-und-Schneller-Werden zur schwer zu ertragenden Routine verkommt und als Tradition ausgegeben wird, kam es zu einer gut eingeübten aber lebendigen Gestaltung, zu dem, was Musizieren ausmacht.

Seit Jahrzehnten pflegt Maazel seine Lesart Mahlerscher Partituren. Er weiß für jeden auch kleinsten Abschnitt und Gedanken sein Tempo, seine Zeichnung ist ziemlich festgelegt, nicht unbedingt immer genau nach der Partitur, aber ganz im Geiste Mahlers. Die Logik ist einfach: Langsamere und schnellere Episoden suggerieren in ihrer raschen Folge das Tempo rubato und werden buchstabierend klar strukturiert, dem Orchester aufs deutlichste gezeigt, obwohl die Intention des Dirigenten den Musikern nach zahlreichen Proben und Konzerten bekannt sein sollte (insgesamt sieben Wochen europaweit, später auch weltweit). Mit den Wiener und New Yorker Philharmonikern ging das daneben, das Resultat war zu wenig emotional und zu strukturalistisch. Mit dem Orchester des Bayerischen Rundfunks in den 90-ern und jetzt mit dem Londoner Philharmonia Orchestra ist Maazel erfolgreich: Man sieht, man hört die Harmonie zwischen dem Dirigenten und dem Orchester, die unabdingbar für Mahler ist. So entstand zum Beispiel im Trio des zweiten Satzes ein echter Wiener Walzer, atemberaubend frei und absolut überzeugend. Die wichtigsten Effekte im Finalsatz (langgezogene Auftakte und Atempausen) sind auch längst bekannt und wirken trotzdem immer wieder aufs Neue. Die Musiker sind bis in die letzten Pulte voll dabei und bereit, sich dem auswendig dirigierenden Maestro anzuvertrauen. Sie fühlen sich gut aufgehoben in den Händen des grimmigen Tyrannen. Fazit: Für das Bremer Publikum dürfte dieser Abend als das Konzert des Jahres gelten!

2. Mai 2011

Was Bremen braucht

Heute brachte "Weser Kurier" meine Meinung zum Thema "Was Bremen braucht", zumindest so lautete die Anfrage der Redaktion:

Die Stadt Bremen befindet sich in der Schuldenfalle. Es muss eine Lösung her, um die Stadt aus der Verschuldung zu bringen, und zwar nicht durch das langsame Sterben auf dem Wege der Kürzungen, sondern mit einem kraftvollen Zerschneiden des Gordischen Knotens.

Der Medienlandschaft bleibt im Interesse einer lebendigen Demokratie der Stadt zu wünschen, das Format einer Pro&Contra-Diskussion im - bisher alternativlosen - Weser-Kurier zu entdecken. Die bürgerliche Bloggerszene könnte sich auch mehr entwickeln, damit eine Gegenüberstellung von Meinungen nicht ausschließlich in Leserbriefen stattfindet.

In der Bremer Bildungspolitik sollte das Rad nicht immer neu erfunden werden: Jeder nächste Senator entdeckt Amerika, und zwar jedes Mal anderswo! Warum liegt die Schulqualität in Bayern viermal höher, Bildungsarmut in Baden-Württemberg zweimal niedriger? Kann man bei den Nachbarn vielleicht lernen?

Was die langfristige „Multikultipolitik“ anbetrifft (auch wenn sie von höchster Stelle für tot erklärt wurde), fehlt es an durchdachten Analysen und deren Umsetzung in der Gesellschaft durch kluge Vorbilder (von oben nach unten durch alle Etagen), die zeigen, wie man Menschen zusammenbringt. Die meisten Bremer leben gern bunt und tolerant. Wenn es aber ungemütlich wird, wenn ethnisch bedingt mentale und reale Konflikte entstehen, tut man immer überrascht, als habe es keine Warnzeichen gegeben. Ich wünschte uns, anstatt unseligen Anti-Sarrazin- oder Panikmacher-Debatten, anstatt der Verfeindungen beim Guttenberg-Skandal, anstatt der Hysterie des Atomkraftverzichts, kurzum anstatt allem, was das Gefühl „Wir gegen die Anderen“ fördert, – eine stringente Ausrichtung auf die Bildung des Wir-Gefühls im Sinne eines Respekts vor der Menschenwürde, die immer auf den Anderen und weniger auf sich selbst bedacht wird. Weniger gutmenschliche unverbindliche Floskeln, weniger Bevormundung der Immigranten und Gerede über migrantische Hintergründe, mehr Selbstverpflichtung der Arbeitgeber. Klare Grenzsetzung, aber auch klare Maßnahmen gegen Diskriminierung. Wer arbeiten will und kann, soll es auch tun können. Wer seine Steuern zahlt, darf zu Hause oder im Verein seine Kultur pflegen.

Wir brauchen Politiker, die sagen, was sie meinen. Die tun, was sie sagen. Die das Charisma der Überzeugung, Denkschärfe, Glaubwürdigkeit und eindeutige Position mitbringen. Wobei ich erwähnen möchte, dass sich gerade die Jüdische Gemeinde nicht klagen kann. Es gibt aber das Leben auch außerhalb des polizeilich streng bewachten Zauns, nicht wahr?

Lehrjahre der postmodernen Literatur

Auch ich mag gute Krimis. Es war mir eine Freude, am 24.10.2010 im "Weser Kurier" ein neues Buch dieser Art vorzustellen, und zwar unter dem Titel "Der kriminalistische Bruder von Alice im Wunderland":

Mit seinem ersten Roman macht Jedediah Berry sehr wohl auf sich aufmerksam. Ein lesenswerter Krimi, und nicht nur ein Krimi. Berry ist ein fantasievoller Erzähler, man fühlt sich wie ein gerne träumendes Kind bei einer aufregenden Gutenachtgeschichte. Seine Belesenheit zeigt sich in vielen Affinitäten, die allesamt zueinander passen und gut gemischt sind. Der Held („a bicyclist and an umbrellist Unwin“) trägt einerseits einige sympathische Züge des Autors und ist andererseits gleichermaßen ein verspielter K. unter den dunklen Zwängen der Bürokratie und ein erwachsener Bruder von Alice, der in Wonderland-ähnlichen Abenteuern unerschütterlich den richtigen Weg findet. Das Magische eines Borges und das Spielerische eines Calvino mischen sich mit dem Bizarren eines Dahl und dem Atmosphärischen eines Dürrenmatt, alles unter dem großen Zeichen von Philip K. Dick und mit Dank an Chesterton.

Ist das Resultat eklektisch? Keinesfalls, eher eine Literatur über die Literatur, aber nicht nur dies. Die stimmungsvolle (wenn auch im Vergleich zum Original etwas langatmige) Übersetzung von Judith Schwaab vermittelt ein Gefühl des Mitwissens, des Mitdabeiseins und Mitträumens. Zu den literarischen Allusionen kommen noch viele Comic-Elemente, und von denen ist es nicht mehr weit bis zu der Film-noir-Atmosphäre der Batman-Reihe. Insbesondere die fatale Gegenüberstellung der mächtigen Agentur und der Zirkus-Karneval-Welt ist wiederzuerkennen. Geheimnisvolle Frauen und die markige Figur des Detektivs Travis Sivart (ein Palyndrom!) entstammen nicht nur Chandlers Verfilmungen („The Big Sleep“), sondern auch „Sin City“. Echoes von „8 ½“, „Brazil“, „Matrix“, „The Ghost Dog“ schimmern durch wie auch eine wahrlich unvorhergesehene Nähe zu dem erst in diesem Jahr erschienenen Film „Inception“. Gerade zu Christopher Nolan ist die Verwandtschaft besonders frappierend und zeugt von dem Zugriff der beiden Autoren auf den Zeitgeist. Was ist das Gemeinsame hier, wenn man die zahlreichen Anlehnungen und Ähnlichkeiten beiseite legt?

Eine enorme Angst vor Veränderungen, denen wir uns nicht entziehen können, die Angst, vor der wir nicht einmal in unseren Träumen in Ruhe gelassen werden. Berry lässt uns das wissen: „Irgendwo in den düsteren Winkeln der Nacht wird die Welt zum Trümmerhaufen, und wir vertrauen darauf, dass eine kleine Glocke alles wieder richten kann“. Er gibt die Hoffnung nicht auf und lässt seinen Helden am Ende des Romans verkünden: „Ich habe Angst, aber ich fühle mich auch lebendig und hellwach“. Der Erstling Berrys ist ein viel versprechender Anfang. Der zweite Roman ist in Arbeit und widmet sich „postapokalyptischen Abenteuern einer ‚Alice im Wonderland’“. Vielleicht etwas selbständiger und stringenter? Wir sind gespannt!
Jedediah Berry
Handbuch für Detektive
Verlag C.H. Beck
381 Seiten
19,95 Euro

Gruß von übermorgen

Am 12.7.2010 in der "Frankfurter Rundschau" ist ein bedeutender Artikel von Hans-Klaus Jungheinrich mit dem Titel "Gruß von vorgestern" erschienen. Seine Gedanken über die Interpretation von Musik machten mich streitlustig. Im "Weser Kurier" durfte ich die Gegenposition zur Sprache bringen, und zwar am 30.9.2010, unter dem Titel "Alles eine Frage der Auslegung. Widerstreit der Lesarten: Warum es in der Musik keine verbindliche Interpretation geben kann":

Der Streit um die „richtige“ Musikinterpretation ist keinesfalls nur eine Frage des Geschmacks. Klar: Die Musik, die man und frau zu wichtiger Stunde des Lebens gehört hat, prägt sich fest ein und wird zum eigenen Maß der musikalischen Dinge. Genauso oft bleibt die erste angehörte Aufnahme einer Komposition die Messlatte für den Abgleich.

Nur: Auf die Weise verwechseln wir eine partielle, oft zufällig entstandene Meinung mit erarbeitetem Wissen. Denn auch über die Musikinterpretation lässt sich streiten. Und das geht so:

Im Zeitalter der technischen (bisweilen digitalen) Reproduktion verfügen wir über Dutzende Aufnahmen von fast jedem Meisterwerk, die zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Ländern entstanden sind. Sie dokumentieren sowohl kulturelle Besonderheiten als auch den Stil ihrer Zeit.

So ist der Musikliebhaber im Meer unzähliger Medienträger zunächst einmal verloren, umsomehr als dass die Industrie jede neue Ausgabe mit Werbung als das non plus ultra anpreist. Wie kann man sich helfen?

Nur durch Vergleich, indem man hineinhört und in sich geht. Das funktioniert ganz einfach. Man nehme einen markanten Satz einer klassisch-romantischen Symphonie und hole sich mindestens fünf würdige Aufnahmen. Man spiele sie sich nacheinander vor. Normalerweise kommt man nicht so schnell aus dem Staunen heraus, so stark sind die Variationen.

Daraus entstehen mehrere Fragen. Gibt es eine einzige richtige Interpretation? Sind die restlichen falsch? Warum gab es noch vor 60 Jahren so große individuelle Unterschiede und heute nur geringe? Warum gefällt heute die eine Interpretation besser und morgen eine andere? Der Reihe nach.

Zum Beispiel Bruckner. Man ist sich einig, seine Musik versinnbildlicht den klingenden Kosmos. Aber auch dieses Bild lässt sich unterschiedlich deuten. Ist sein Kosmos unbeweglich majestätisch? Oder verwandelt er sich in langsamen Wellen? Organisiert sich in immerwährenden Kreisen oder in mehrdimensionalen Steigerungen? Ist er statisch oder dynamisch? In sich ruhend oder dem Höchsten entgegen ausgerichtet? Und wenn statisch, darf er zumindest atmen oder soll nur wie ein Riesenkristall wirken? Hier teilen sich die Geister. Große Dirigenten haben ihre Lesarten brucknerscher Kosmologie angeboten. Extrem langsame Tempi von Sergiu Celibidache suggerieren das Monumentale des Alls, mehr oder weniger perfektionierte Statik herrscht bei Günter Wand, wohingegen die ruhige Atmung des Ewigen bei Herbert Karajan im Vordergrund steht. Alle drei streben zur Einheitlichkeit im Tempo, nur erreichen sie ein jeweils anderes Bild und wecken verschiedene Assoziationen. Die geschichtliche Nähe Bruckners zu Wagner wird hier außer acht gelassen, und was den oft angesprochenen „teutonischen“ Eindruck betrifft, so ist die gelungenste Aufnahme dieser Art nicht deutscher, sondern russischer Herkunft, und zwar von Evgeni Svetlanov. Kann denn ein Russe die deutsche und dazu noch erzkatholische Seele erfassen? Muss man allerdings überhaupt deutsch und katholisch sein, um die Musik eines gebürtigen Österreichers zu treffen?

Das war aber noch nicht alles. Eugen Jochum hat fast zeitgleich mit Karajan gewirkt. Beide meinten das Sakrale, erreichten das entsprechende Ziel aber unterschiedlich. Jochum hatte eine wellenförmige, pulsierende Vorstellung vom Atem des Universums. Eine unmerkliche Steigerung der Geschwindigkeit in den langen Flächen neben den Ruhezonen zeigt: Jochum dachte in großen Dimensionen, in denen der tönenden Architektonik. Ist die in sich ruhende Plastizität Karajans gegen die exstatische Dramatik Jochums auszuspielen? – Nein, ich möchte auf keine von beiden verzichten.

Dass man damit auch übertreiben kann, zeigte Hans Knappertsbusch. In heutigen Typologien der Dirigenten möchte man auf seine manchmal peinliche Affektiertheit verzichten. Trotzdem war Knappertsbuschs bedeutungsschwangeres Pathos nicht bloß „teutonisch“ und „manipulierend“, er war eher ein „komisches“ Gegenstück zur genialen Darstellung des dramatischen Willens, wie es Wilhelm Furtwängler pflegte. Die Tradition der ausdrucksfähigen Tempogestaltung war da, um die Geburt der Musik aus dem Geiste hier und jetzt zu präsentieren, es war immer einmalig und es wirkt auch heute noch so, leider mehr in Aufnahmen und kaum noch im Konzert. Unterm Strich bedeutet das, dass absolut daneben gelaufene Interpretationen daran erkannt werden können, dass sie einen Zuhörer gleichgültig lassen.

Die Gründe dafür sind zahlreich, darunter der Perfektionismuswahn im Selbstverständnis einer zunehmend mehr und mehr demokratischen Orchesterkultur. Allerdings waren auch Konzertaufnahmen eines Willem Mengelberg perfekter als die Studioaufnahmen Wands oder Thielemanns. Als genauso subjektiv könnte man auch die historische Wahrheit der neuesten musealen Trends bezeichnen, denn treu dem Buchstaben vernachlässigen sie meist den Geist des Originals.

Es geht hier wohl weniger um den ewigen Streit über Wagner und Beethoven als angebliche Antipoden in der Aufführungstradition der deutschen Musik als vielmehr um eine subjektive Annäherung an den objektivierten Inhalt der Autorenaussage. Wie Bruckners Symphonien, lässt sich jedes Meisterwerk erschließen. Um mit nur noch einem Beispiel abzurunden: Was für eine Freude ist es, sich von der Binsenwahrheit einer „Unvollendeten“ zu verabschieden und zu erkennen, dass sie vollendet ist! Denn man liest immer noch oft die Frage, wie es wohl passieren konnte, dass Schubert nur zwei Sätze zustande brachte. Erst beim vergleichenden Hören lässt sich die Vollkommenheit der Komposition erahnen, wenn Dirigenten den Proporz zwischen den Elementen aufs Neue suchen und meinen. Mehr sogar, je individueller die Lösung, desto überzeugender das Konzept. Denn Musik ist eine Kunst und will menschliche Unterschiede vermitteln. Es gibt keine einzig wahre Interpretation, weil kein Mensch dem anderen gleicht. Mit anderen Worten: Wir verständigen uns durch Musik erfolgreich, nur weil und wenn wir unterschiedlich sind.