11. September 2012

Auf der Flucht vor dem Jenseits

Ein Text über den Film "Avatar", Weser Kurier 2011. Die Fotomontage hat Stevie Schulze nach meiner Skizze dankenswerterweise sehr schön gemacht.

Wie halten Sie es mit der Wiederauferstehung? Der heutige Mensch merkt kaum, wie die Wirklichkeit seinem sehnlichsten Wunsch zuwiderläuft. Neueste Forschungen geben zu hoffen, dass Implantate bald die Computerisierung unserer Augen und Ohren bringen, von längst existenten Prothesen aller Art gar zu schweigen. Schon 1998 schlug Katherine Hayles („How we became posthuman“) deswegen vor, vom posthumanen Zeitalter zu sprechen. Wie kann aber jemand wiedergeboren werden, wenn er fast nur aus Ersatzteilen besteht? Wo ist sein Körper?
Die Kunst spiegelt diese Verunsicherung wider, und zwar mit der Erneuerung uralter Mythen. Dank Richard Wagner hörte die Wiederauferstehung auf, ein kirchliches Privileg zu sein. Kann eine Weihehandlung schöner und mitreißender sein als im „Parsifal“? Wer dabei sein wollte, der musste bis 1913 pilgern: Wagners Testament erlaubte das nicht anders – das gnadenreichste Weihefest Europas fand 30 Jahre lang exklusiv in Bayreuth statt. „Avatar“ von James Cameron wurde dagegen der erfolgreichste Kassenschlager aller Zeiten und ging sofort nach der Premiere 2009 um die Welt. Innerhalb kurzer Zeit haben ihn mehr Menschen kennengelernt als „Parsifal“ nach 130 Jahren.
Für Wagner spielte die hinduistische Färbung der Erlösung mit Reinkarnation nur eine Nebenrolle. Cameron dagegen verlegt das Zentrum der Wiederauferstehung auf den astralen Körper – Jack Sully geht in seinem Avatar auf. Sein menschlicher Körper ist verbraucht. Leider wird das in der bisherigen Rezeption kaum erkannt und verstanden.
Die meisten deutschen Autoren prophezeiten dem Film Misserfolg und gaben sich missgünstig. „Recht dünn, oberflächlich und ziemlich naiv“ (S. Rettig). „Seltsam artifiziell, unorganisch. Cameron ist einfach außerstande, wirklich berührende Geschichten zu erzählen“ (C. Egger). „Ist der Inhalt besonders mickrig, kommt die Verpackung oft umso schriller daher.“ (K. Jacquemain). „Ein DEFA-Indianerfilm“, der „inhaltlich nicht aufgeht“ (F. Frieler). „Jesus hat unter dem Baum der Erkenntnis Sex mit Pocahontas und konvertiert zum Buddhismus, bevor er das Jenseits zum Diesseits erklärt und als Drachenreiter für das totale Gleichgewicht auf einem Mond sorgt, der eigentlich ein großer Datenspeicher ist. Sie finden das gaga?“ (J. Diestelmeyer). „Die Story vom Bösen, der zum Guten wird, der all seine Werte für eine gute Sache aufgibt, ist dünner als manches Supermodel.“ (M. Zekri). „Ein aufgeblasener B-Movie“, „der ultimative Jungstraum, eine pubertäre Fantasy: Robinson meets Freitag, eine geile Braut, die meistens nackt herumläuft, Sommer, Sonne, Schlümpfe und keine Arbeit. Zugleich ist Avatar ein Ökothriller, recht esoterisch in seiner Botschaft, dass man den Baum umarmen muss, dann umarmt er auch zurück“. (R. Suchsland). „Man hat das Gefühl, dass James Cameron während der langen Vorbereitungszeit zu „Avatar“ am Feierabend Yoga und Selbstfindungs-Kurse besucht hat.“ (A. Leweke). „Bei allem Ethnokitsch um die außerirdische Gesellschaft mit ihren Indianer-Weisheiten und afrikanischen Stammesriten kann der Film seine Herkunft dann doch nicht leugnen – so bleibt es der weiße Mann, dem die Eingeborenen sich unterwerfen und der sie zum Sieg führt“ (A. Hutter). „Ein perverser Film“ (K. Theweleit). „Das alles kennt man. Das ist der große Nachteil des neuen Films von James Cameron, der seine Chance, Filmgeschichte zu schreiben, gegen Null tendieren lässt“ (N. Rodriguez). „Mehr als eine wahrscheinlich sehr erfolgreiche technische Fußnote der Filmgeschichte ist „Avatar“ damit wohl leider nicht“ (J. Kiontke).
Nicht viel besser verhielt es sich mit den vermeintlich positiven Stimmen. „Wie Sully – und mit ihm der Zuschauer – lernt die fremde Welt mit neuen Augen zu sehen und auch zu schätzen, so soll auch der Zuschauer lernen die Naturschönheiten seiner Welt bewusster zu sehen und vom kalten Profit- und Wissenschaftsdenken abkommen“ (W. Gasperi). „Es ist, im Kern, die eigentliche Ideologie der universalen Anschlussfähigkeit, die den aktuellen Blockbuster bestimmt“ (T. Kniebe). In der amerikanischen Kritik gab es sogar plumpe Politisierung: „Der Film verkennt den Militarismus, Kapitalismus, Imperialismus“ (A. White).
Nur wenige Kenner meldeten sich zu Wort, meist in Internetforen und Blogs: Dort wurden zwei der wichtigsten Hintergründe – SF-Literatur sowie Joseph Campbell – sofort erwähnt. Zum Teil hat das vielleicht damit zu tun, dass Filmkritiker nur Filme schauen und Literaturkritiker nur Bücher lesen. Die ersten sehen sich bestenfalls an das Drehbuch Camerons zu „Strange Days“ (1995) und an den Kostner-Film „Der mit dem Wolf tanzt“ (1990) erinnert. Die anderen holen Kurzgeschichten, Romane und Comics ihrer Pubertät heraus. Die Poesie des Waldes als eines symbiotischen Wesens muss man nicht gleich als grüne Ökogottheit verhöhnen. So wie Ray Bradbury („Here There Be Tigers“, 1951), Robert F. Young („To Fell a Tree“, 1959), James Schultz („Ausgeglichene Ökologie“, 1965) das gesehen haben, spricht diese Literatur den Traum an, ein besserer Mensch durch die Einigung mit der Natur zu werden. Eine literarisch brillante Untersuchung des Guten und des Bösen auf dem utopischen Waldplaneten unternahm Ursula Le Guin („Das Wort für Welt ist Wald“, 1972). Die intellektuell höchste Leistung auf dem Gebiet stammt wohl von Gebrüdern Strugatzki („Die Schnecke am Hang“, die erste, noch nicht übersetzte Fassung von 1965, die berauschende Handlung spielt auf einem wirklich fantastischen Planeten „Pandora“). Murrey Leinster („Exploration Team“, 1956), Harry Harrison („Die Todeswelt“, 1960), Alan Dean Foster („Die denkenden Wälder“, 1975) sprechen den Abenteurergeist im geneigten Leser an. In mehreren Werken erscheint die Verwandlung einen paralysierten Kriegsveteranen in einen Weltretter als Motiv – beginnend beim Tarzan-Erfinder Edgar Rice Burroughs („Die Prinzessin vom Mars“, 1917). Am nächsten stehen „Avatar“ drei meisterhafte Kurzgeschichten: „Flucht“ (1944, Clifford Simak), „Nennt mich Joe“ (1957, Paul Anderson) und „Der Planet der Katzenwölfe“ (1973, Ben Bova). Menschen übertragen ihre Psyche in außerirdische Wesen und fühlen sich dabei besser als je zuvor. Es sieht so aus, als hätte James Cameron die gesamte SF-Literatur im Schmelztiegel zu einer bilderreichen Suspension verarbeitet.
Die andere Quelle ist eine insbesondere in Filmkreisen bekannte Theorie des amerikanischen Mythenforschers Joseph Campbell. Danach kann man eine gemeinsame Struktur des menschlichen Denkens in Mythen so weit verallgemeinern, dass sich daraus ein Ur-Mythos ableiten lässt. Einerseits führt dieser Gedanke alle unterschiedlichen Kulturen auf eine gemeinsame Wurzel zurück. Andererseits verwischt er Unterschiede und verleitet zur strukturalistischen Auffassung der Multikulturalität. Muss diese immer in einen Machtkampf zwischen zwei Welten ausarten, beiderseitig imperialistisch? Inzwischen sind zahlreiche Filme nach Campbell erschaffen worden. Insider kennen auch die verkürzte, fast schon witzige Anweisung von Christopher Vogler für Drehbuchautoren. Die Idee hinter den „Star Wars“ ist simple moralische Überlegenheit des Guten über dem Bösen, der Film wirkt aber plakativ wie ein Comic. Schattierungen fehlen. „Avatar“ ist ein ausgereiftes Exemplar und macht beide Seiten des Konfliktes etwas lebendiger (wenn nur nicht die kitschige Musik wäre, na ja). Warum spricht er Menschen aller Kulturen an? Sitzt denn der Ur-Mythos in unseren Genen, Instinkten, im kollektiven Unbewussten? Kann das überhaupt stimmen? Ist das Gemeinsame hier der Hang zum Glauben? An das Leben nach dem Tod?
„Avatar“ ist nicht nur eine Initiationsstory, eine rührende Liebesgeschichte, eine Rettungsoper. Kurz vor dem Filmende rettet Neytiri ihren Liebsten, Jack wird von ihr wie in einer Pietà gehalten. Auf einmal entzücken einmalige Proportionen Michelangelos unseren Blick: Er menschlich, sie übermenschlich groß, dort wie hier.
Erste Schauspieler – die Schamanen – waren die sakralen Mimen. Sie repräsentierten das Göttliche. Ein anderer zu sein, war ein ritueller Akt der Einigung mit den Ahnen, dem kleinen und großen Kosmos. Um woanders zu sein, muss nicht immer eine Zeitmaschine zur Verfügung stehen, es genügt, sich eine parallele Welt auszudenken. Herbert Wells hat das – schon wieder als Erster – einmal so, mit einem Zeitsprung, gemacht („Wenn der Schläfer erwacht“, 1899), einmal anders, mit einem Sprung in eine parallele Welt („Menschen, Götter gleich“, 1923). Seit Jahrzehnten sind uns die Antiutopien vertraut, nicht nur durch Orwell, sondern eher durch die Realität der totalitären Systeme. Die wahren eskapistischen Utopien verdanken wir auch dieser Erfahrung. Sie wurden zum fruchtbaren Ackerfeld der SF-Literatur. (Warum eigentlich eher außerhalb Deutschlands?)
Ihrer Verarbeitung und Visualisierung verdankt „Avatar“ seinen Erfolg. Die übernatürliche Seelenwanderung ist im Film ein als Gegebenheit dargestelltes Wunder. Nicht mehr science fiction, sondern vielmehr der Glaube an Wunder strahlt daraus. Im Film „Source Code“ (2011) wird ebenfalls ein Wunder eingesetzt: Der Held rettet die Welt, gleichzeitig erschafft er ein paralleles Universum, in dem er glücklich werden kann. Auch das ist nicht neu – Robert A. Heinlein („Die Tür in den Sommer“, 1956), Philipp K. Dick („Und die Erde steht still“, 1957), Robert Sheckley („Lebensgeister GmbH“, 1958) haben den literarischen Weg vorgegeben. Ein bisheriger Höhepunkt der Magie paralleler Welten wurde von Philip Pullman in „His Dark Materials“ (2000) geschrieben. Jetzt folgen Filme: „Avatar“ und „Source Code“ gehen auf Seelenwanderung. Bei der Verwandlung in „Source Code“ besetzt der Sterbende allerdings den Körper eines Menschen, der leider auf diese Weise verschwindet, ohne dass es im Film thematisiert wird. Dazwischen liegen auch noch Fantasy-Welten der Videospiele, so z.B. „Wizardry VII“ (1992), „Oblivion“ (2006). Deren unterschiedliche Avatare wurden für Generationen ab den 90-er Jahre zu den maßgeblichen, prägenden virtuellen Erfahrungen.
Jay Michaelson, amerikanischer Religionsforscher, hält zwar „Avatar“ für einen „Hollywood Cartoon“, weist aber darauf hin, dass dessen Philosophie einem Panentheismus nahesteht: Die Begrüßung der Na’vi „Ich sehe dich“ sei dasselbe wie „Namaste“ im Sanskrit und bedeute „Der Gott in mir sieht den Gott in dir“. Der Gedanke ziehe sich durch die Upanischaden, das Buch Sohar, sei bei Laotse, Rumi und Johannes vom Kreuz vertreten.
Im „Zauberer von Oz“ (1900) wird der lokale Gott als Scharlatan entlarvt, bei Pullman muss der Allmächtige gar entthront und aus Altersgründen verabschiedet werden. Die „Apfel“-Geschichte von Adam und Eva hat Pullman auch auf die Füße gestellt – vom Baum der Erkenntnis kommt das Gute und keine Sünde: „Wir sollten nicht so leben, als ob dieses Jenseits wichtiger wäre als das Leben in dieser Welt, denn da, wo wir leben, das ist der wichtigste Ort für uns“.
Er menschlich, sie übermenschlich groß, dort wie hier: links Pietà von Michelangelo, rechts Neytiri und Jack im „Avatar“ von James Cameron

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