5. September 2012

Das politische Wir

Noch ein Text für den Weser Kurier 2011, unter anderem nach der Beteiligung am Evangelischen Kirchentag in Dresden.
Dresden 1990. Vom Platz am damaligen „Dresdner Hof“ her erschallt eine tiefe männliche Stimme, verstärkt durch Lautsprecher:
Wir wollen und wir können!
Weil wir können, wollen wir!
Weil wir können, können wir!
Die Politik wird ganz oben gemacht, weil sie ganz unten gebraucht wird.
Wir haben hier den Himmel auf Erden! Wir wollen noch höher, wir wollen Himmel und Hölle in Bewegung setzen!
Es sammeln sich Unmengen von Menschen, die glauben, Bundeskanzler Kohl sei zu Besuch gekommen. Die Schaulustigen täuschen sich, sie hören der ostdeutschen Erstaufführung einer herrlichen Satire von Mauricio Kagel zu.
Das Hörstück „Der Tribun“ (1979) ist eine Enzyklopädie rhetorischer Formeln, es wendet sich der manipulativen Sprache von Politiker zu. Die Kunst der Propaganda beginnt nicht mit Macchiavelli und endet nicht mit Goebbels. Die aristotelische Logik hat formale Fehlschüsse analysiert, heute weiß man auch um die emotionale Wirkung von Appellen. Englischsprachige Forscher reden von „Red herring“ und vom „appeal to emotion“, in der deutschen Sprache gibt es dafür bis heute kein Äquivalent. Im weiteren sollen zwei Arten der manipulativen Sprache erörtert werden, zwischen „ignoratio elenchi“ und „argumentum ad populum“ angesiedelt und mit dem populistischen Gebrauch vom extensiven „wir“ gewürzt.
Zuerst ein „wir“-Appell. Am Rande des evangelischen Kirchentages in Dresden 2011 beschäftigte sich eine kleine Gruppe mit einem exemplarischen Text dieser Art, dem Aufruf des internationalen Rats der Christen und Juden von 2009, bekannt oder, besser gesagt, kaum bekannt unter dem Namen „Berliner Thesen“. In dem breit angelegten Dokument schwenkten selbsternannte Vertreter von Christen und Juden vollmundig große Worte. Zum Beispiel, so heißt es im „Aufruf an christliche wie jüdische Gemeinden und an Andere“: „Wir laden Juden, Christen und Muslime gemeinsam mit allen Menschen des Glaubens und guten Willens ein, einander stets zu respektieren und die Unterschiede und die Würde des jeweils Anderen zu achten.“ Eine kleine Gruppe findet zu einem „wir“ und wendet sich an Gleichgesinnte. Was kann dabei schon verwerflich sein? Und doch ändert sich die Perspektive innerhalb eines Satzes viel zu schnell. Im Aufruf-Titel werden die Anderen noch pauschal draußen gesehen. In der Aufzählung tauchen Muslime auf, die vorhin nicht einmal erwähnt wurden und schon gar nicht dazu eingeladen worden waren, an dem Dokument mitzuarbeiten. Sind Muslime hier ein Teil vom „wir“ oder gesuchte Dialogpartner? Werden diese von oben herab oder als gleichberechtigt angesehen? Sieht gut gemeinter Dialog der Religionen so aus? Weiterhin erscheinen im zitierten Satz „die Menschen des Glaubens“ und gleich darauf gar „die Menschen des guten Willens“. Warum werden hier diese namentlich genannten Gruppen ausdrücklich angesprochen? Muss man sie dazu aufrufen? Halten sie sich nicht an die Vorgaben des Respekts und der Achtung? Sind sie vom appellierenden „wir“ ausgeschlossen? Und warum wendet man sich nicht an die, die wahrlich draußen sind und nicht zum Pool der „Guten“ par excellence gehören? Antonio von Padua machte es anders, er ging zu den Fischen und predigte ihnen die Moral, mit dem bekannten Resultat, dass sie einander weiterhin fraßen. Machen wir ein Experiment und schreiben denselben Appell um. Zum Beispiel so: „Liebe Menschen des bösen Willens! Wir, die wir die Menschen des guten Willens sind (und davon überzeugt sind, dass wir die Kraft sind, die stets das Gute will), rufen euch dazu auf, einander und uns zu respektieren.“ Oder sollte es besser so klingen: „Wir, die guten Menschen, respektieren nur die guten Menschen, und achten die Würde der anderen guten Menschen. Die anderen, die bösen, werden von uns mit keinem Wort erwähnt, nicht einmal beachtet.“
Eine typische Rhetorik der Gutmenschen – dazu gehören auch Belehrungen, die auf Affekterzeugung hinwirken. In den „Berliner Thesen“ nimmt in diesem Sinne eine politische Dimension den größten Platz ein, und zwar, wie so oft heutzutage, der Nahostkonflikt. Die christlichen wie jüdischen Teilnehmer machen Juden allein für die Abwicklung des Friedensprozesses verantwortlich, rümpfen die Nase über den Zionismus, verherrlichen die Friedensarbeiter, die ihrerseits bekanntlich alle nationalen Bewegungen lobpreisen, nur nicht die jüdische, erfinden die Unterdrückung christlicher Gemeinden in Israel. Den Gipfel des eindeutig „israelkritischen“ Untertons erreicht der Text, wenn es um die Beschwörung einer „gerechten und friedvollen Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes“ geht. Diese Lösung werde „erreicht“, wenn „der Staat Israel“ die „in seinen Gründungsdokumenten formulierten Ideale“ „verwirklichen“ würde. Die andere Seite des Konfliktes wird weder genannt noch angesprochen, die Realität der eigentlichen politischen Kommunikation sowie der Politik selbst wird außer Acht gelassen.
In ähnlicher Manier rief auch Margot Käßmann in Dresden 2011 beim Evangelischen Kirchentag auf: Es sei "besser mit den Taliban zu beten, als sie zu bombardieren", ohne dabei das Pronomen „wir“ zu bemühen. Sie meinte dabei keinesfalls sich selbst, sondern erteilte eine Empfehlung an andere, ohne eine Verantwortung für die Folgen tragen zu müssen. Sie wird wohl nie selbst mit den Taliban beten, dass müssen eben die anderen auf sich nehmen. Umformuliert würde es klingen: „Ihr bombardiert, Ihr müsst lieber beten“. Diese Art von Belehrung macht das Wesen des sogenannten Gutmenschen aus – eine im Kern hochmoralische Position, die sich aber so hochschaukelt, dass sie den Boden der Realität verlässt. Zeitgleich bringt man sich in Rage, weil Mitmenschen nicht das tun, was ihnen gesagt wird.
Jetzt wenden wir uns dem emotionalen Appell („appeal to emotion“) zu. Käßmann, die ihren Fans „als Idealtyp des Gutmenschen“ gilt, vergaloppierte sich insbesondere zu Weihnachten 2009 mit dem Interview an die „Berliner Zeitung“. Darin stellte sie den notwendigen Krieg gegen Nazideutschland in Frage, in dem sie geschichtliche Zusammenhänge ausblendete und Opfer nur einer und zwar der deutschen Seite bedauerte. Sie sagte: „Das Argument lautet immer: Hätten die Alliierten nicht eingegriffen, hätte es keinen Frieden gegeben.“ Suggeriert wird hier, es sei möglich gewesen, den Frieden mit Hitler zu bewahren oder zu schließen. Man hätte lieber Nazi-Deutschland zu akzeptieren als anzugreifen. Sie fragte: „Warum gab es vorher keine Strategien?“ Diese Frage lässt annehmen, dass Gespräche, Verhandlungen, Konzessionen im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges überhaupt nicht stattgefunden haben und dass mit Kriegserklärung und Invasion hantiert wurde anstatt zu verhandeln. Das stimmt nicht. Jahrelang haben britische, französische, amerikanische und russische Politiker (jeder im eigenen Interesse und oft fatal falsch) eben nur verhandelt, was als Politik des „Appeasement“ bezeichnet wurde, und sie haben erst so die Militarisierung Nazi-Deutschlands sowie die Vorbereitung der Eroberungs- und Vernichtungskriege seitens des sogenannten "Dritten Reichs" ermöglicht. Es waren also auch andere Strategien im Spiel, und diese haben versagt. Die Geschichte dieser Jahre hat die Menschheit gelehrt, dass eine Kriegsvorbereitung mit bloßen Worten nicht zu verhindern ist.
Sie monierte: „Warum wurde die Opposition in Deutschland nicht gestärkt?“ Käßmann meint also, die interne Opposition innerhalb des Hitler-Regimes sei so stark gewesen, dass ein effektives Einlenken möglich gewesen wäre. Das stimmt auch nicht. Es gab kaum organisierte Opposition. Eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stand hinter dem Krieg. Einzelne Widerständler hatten keine Chance, sich gegen die Volksgemeinschaft eine Stimme zu verschaffen. Und später im Krieg ging es den Alliierten nicht darum, Hitler zu stürzen, sondern das gesamte Regime zu Fall zu bringen.
Sie empörte sich: „Warum wurden die Gleise, die nach Auschwitz führten, nicht bombardiert?“ Aber auch in weiteren Äußerungen desselben Interviews sieht Käßmann Opfer und Zerstörung in Deutschland als Resultat des Krieges seitens der Alliierten. Indem sie sich selbst widerspricht und eine ausgebliebene Bombardierung bedauert, verunsichert sie den Leser: Ist denn die Option Krieg für sie doch zulässig? Sie sagte trotzdem: „Für mich kann es keinen gerechten Krieg geben.“ Einen „gerechten“ Krieg im wahren Sinne des Wortes mag es tatsächlich nicht geben. Aber es gibt notwendige und unvermeidliche Kriege. Ist der Krieg gegen heimtückisch agierende Terrorgruppen kein notwendiger Kampf? Möchte man wirklich den Verbrechern Zeit und Freiheit geben, sich aufzubereiten? Bringen die Positionen der sogenannten „Friedensbewegung“, die Verständnis für Terrorgruppen, nicht aber für die Verteidigungsmaßnahmen findet, uns weiter? Sie bekämpfen den Krieg nicht, sie lassen den Krieg zu.
Zurück zum appellativen „wir“. Linguisten unterscheiden in der deutschen Sprache fünf Verwendungsweisen des Pronomens der ersten Person Plural – nach Martin Haase (2008) sind das exklusives, inklusives, extensives „wir“ sowie Majestäts- und Bescheidenheitsplurals (pluralis maiestatis/modestiae). Frühere Generationen kannten das extensive „wir“ noch vom Schaffner („Wohin fahren wir?“, „Wollen wir hier aussteigen?“) oder von Krankenschwestern („Wie geht es uns heute?“). Alexander Stephanowitsch hat die wohlwollend-paternalistische Haltung am Beispiel der CDU-Wahlkampagne 2009 analysiert. „Wir haben Kraft“ wurde in unzähligen Plakaten mit verschiedensten Konnotationen behauptet. Je nach der Variation bedeutete „wir“ die Bundeskanzlerin Merkel, die gesamte CDU, die CDU-Wählerschaft, das Volk und das Deutschland. Allzu bekannt sind Beispiele der meinungsbildenden „Bild“-Rhetorik: „Wir sind Deutschland“, „Wir sind Papst!“. Und klar – das ist nicht nur in Deutschland so üblich. Barak Obama ging in die Geschichte ein mit seinem Spruch „Yes, we can“ (2008), wofür er den Friedensnobelpreis im voraus erhielt, ohne etwas dafür gemacht haben zu müssen. Daraus wurde bekanntlich sogar ein Song, das seinerseits ans „We Are The World“ von 1985 erinnert, übrigens von selben Autoren komponiert.
Das sind nicht nur Geschichten von gestern. Aktuell macht Renate Künast auf sich aufmerksam, indem sie verkündet: „Wenn wir Veränderungen wollen, müssen wir scharf ran“. Den Spruch trainierte sie zuerst 2008, da vertrat sie mit dem Satz Interessen von Bauern, mit dem inklusiven wir meinte sie in etwa: „Wir (Bauern) wollen und wir (die Ministerin) müssen“. Jetzt ist das ihre Losung in Berlin. Auf 50.000 Plakaten wird der Sprung vom einem zum anderen „wir“ gemacht: Wir, die Wähler, wollen, wir, Renate Künast, müssen. Die Grünen lernen also von der CDU, mit dem vox populi umzugehen.
Es geht dabei um die Meinungs- und Deutungshoheit. Die Medien übernehmen zunehmend diese Rolle von den Politikern. Es bildet sich auch das Mainstream, das von dem Motto „Überparteiisch, Unabhängig“ schleichend verabschiedet. Das lesende wie fernschauende Publikum wird aufs massivste belehrt, eine Meinung anzueignen. Die abweichenden Positionen werden moralisch aburteilt und mit Verwünschungen und Verbotswünschen sanktioniert. Wenn man in die gutmenschliche Selbstartikulation tief genug hineinblickt, findet man ein ziemliches Machtbestreben, die Meinungs- und Deutungshoheit zu erlangen. Da wird kaum Toleranz zugelassen, da wird wie bei der kommunistischen Internationale für die reine Ideologie gekämpft. Das Gemeinsame ist der brennende Wunsch, die Welt nach eigenem Gutdünken umzugestalten, mehr oder weniger im Geiste der berühmten Marxschen Formel "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Mir persönlich gefällt viel mehr die Abwandlung, die Odo Marquard daraus nicht einmal ironisch abgeleitet hat: „Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern sie zu verschonen“.
Zuletzt noch einmal zum Gutmenschentum und Toleranz. In den letzten Jahren zitieren verschiedene Vertreter der Muslime zu Recht den berühmten Spruch Goethes „Dulden heißt beleidigen. Die wahre Liberalität ist Anerkennung.“ Im einleitenden Grußwort zu den „Berliner Thesen“ dagegen stützt sich Bernhard Vogel, damaliger Präsident der Konrad-Adenauer-Stiftung, auf eine andere Position: „Im Geiste der Toleranz sehen wir in unseren jüdischen Landsleuten vollberechtigte Mitbürger.“ Konrad Adenauer hat das 1949 höchstpersönlich gesagt. Die Mehrheitsgesellschaft pendelt immer noch zwischen Goethe und Adenauer, zwischen Dulden und Anerkennen. In diesem Sinne nahm der Bundestagspräsident Norbert Lammert beim Kirchentag in Dresden auf sich, die nötigen Worte auszusprechen. „Es gibt keinen Dialog zwischen Religionen, schon gar keinen Trialog. Dialoge gibt es nur zwischen Menschen, sie müssen zum Dialog bereit und in der Lage sein.“ „Man muss sich treffen. Man muss tatsächlich arbeiten. Und vor allem: man muss es wollen.“ Schon wieder ein Appell? Ja, den finde ich aber gut!

Keine Kommentare: